Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Spende ihres Mannes die Bezahlung gewesen war für ein Neugeborenes.
Frau Martorell hörte aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen. Als Leire endete, war sie erschöpft und wollte gehen. Ihre Wohnung mit den lebensmüden Fliesen und den verstopften Abflüssen kam ihr auf einmal vor wie das schönste Zuhause der Welt.
»Sie sind sehr blass«, sagte Frau Martorell. »Ich denke, ich rufe Ihnen lieber ein Taxi. Und … glauben Sie mir, Frau Castro, denn ich sage es zu Ihrem Wohl und zum Wohl Ihres Kindes: Wühlen Sie nicht eine Vergangenheit auf, die, selbst wenn es stimmt, uns nicht hilft, Ruth zu finden. Konzentrieren Sie sich auf die Zukunft. Es ist das Beste, für Sie und für alle.«
Leire hätte ihr gerne geantwortet, dass es das Beste ohneGerechtigkeit nicht gab, aber sie fühlte sich nicht stark genug. Sie schaute sie nur an, versuchte ihr Unverständnis über eine solche Auffassung zu vermitteln. Aber die Frau reagierte nicht. Enttäuscht stand Leire auf, nahm das Blatt, auf dem die Spende von Ruths Vater vermerkt war, und ging zur Tür, ohne ein weiteres Wort. Sie würde draußen auf das Taxi warten.
Sie sehnte sich danach, in ihre Wohnung zu kommen, sich einzuschließen und die Welt zu vergessen, eine Welt, die vielleicht nicht absichtlich grausam war, aber zutiefst unmenschlich.
37
Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte sechs Uhr, und Leire drehte sich wieder um. Wieso sollte sie so früh aufstehen. Sie schloss die Augen und versuchte einzuschlafen, als ließe sich das erzwingen. Nach einer Viertelstunde gab sie sich geschlagen.
Sie ging vom Bett zum Sofa, ohne jeden Frühstückshunger, und wartete darauf, dass Abel sich meldete. Als es passierte, atmete sie beruhigt. Sie hatte sich so daran gewöhnt, dass sie eine fürchterliche Angst bekam, wenn es mal ausblieb.
Vor ihr auf dem Couchtisch lagen die Fotos von Ruth, ihre Akte und das Video mit der Aufnahme aus der Praxis von Dr. Omar. Sie fühlte sich nicht imstande, es noch einmal anzusehen, und auf einmal wurde ihr klar, dass sie sich auch nicht mehr imstande fühlte, den Fall weiter zu verfolgen. Er berührte sie zu sehr, fraß sich in ihr Bewusstsein, beunruhigte sie. Das geht so nicht weiter, sagte sie sich. Und während sie hinzunehmen versuchte, dass sie zum ersten Mal bei einem Fall kapitulierte, bevor alle Möglichkeiten ausgeschöpft waren, steckte sie Stück für Stück alles in den Umschlag, den Martina Andreu ihr gegeben hatte. Nach einem zögerlichen Moment ließ sie nur das Blatt mit dem Spendenbeleg draußen. Sie würde es Inspektor Salgado geben, sollte er damit machen, was er für richtig hielt.
Ja, es war entschieden: Sie würde alles der Unterinspektorin Andreu zurückgeben und sagen, sie sei zu erschöpft, um weiter zu ermitteln. Sie würde mit Héctor Salgado sprechen und ihm mitteilen, welche Vermutungen sich um die Geburt seiner Exfrau rankten. Und dann würde sie einfach nur darauf warten, dass Abel zur Welt kam, ohne Schreckmomente oder beklemmende Gespräche wie das mit Ruths Mutter.
Aber das Gedächtnis hatte seine eigenen Spielregeln, und Ruths Gesicht, so wie sie es vom Foto kannte, erschien hartnäckig immer wieder. Ruth, vielleicht adoptiert, ohne dass sie davon wusste. Unter dem Einfluss ihrer Mutter, bis sie den Mut hatte, für sich selbst zu entscheiden. Was Ruth wohl gefühlt hatte, als sie von Patricias tödlichem Unfall erfuhr? Wie die weibliche Hauptfigur in Außer Atem war sie über ihre eigenen Gefühle erschrocken und hatte ihre Freundin verraten. Für Montserrat Martorell war damit alles vorbei, nicht aber für ihre Tochter.
Ruth hatte Patricias Foto aufgehoben, hatte geschrieben, dass Liebe ewige Schuld schafft. Also auch denen gegenüber, die man nicht mehr liebt, die einen irgendwann einmal geliebt haben. Und wegen dieses falsch verstandenen Verantwortungsgefühls war Ruth zu Dr. Omar gegangen, um sich für ihren Exmann einzusetzen. Ja, das musste der Grund gewesen sein. Was hatte dieser perverse Knochen ihr nur gesagt? Nichts allzu Schreckliches, denn Ruth war nach dem Besuch, über den sie mit niemandem sprach, kaum verändert. Héctor erzählte Leire von dem letzten Mal, als er Ruth gesehen hatte, sie waren zum Flughafen gefahren, um seinen verlorengegangenen Koffer abzuholen. Er hatte nichts bemerkt, sie war wie immer gewesen … Und dann verschwunden.
Ich kann nicht mehr, sagte sich Leire. Und sie wusste, falls Ruth von irgendwoher sehen konnte, was auf der Welt geschah, würde sie sich nicht
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