Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
verraten vorkommen. Im Gegenteil, sie würde diese schwangere Polizistin vollkommen verstehen.
Am späteren Nachmittag verließ sie das Kommissariat mit leerer Tasche, hin- und hergerissen zwischen Erleichterung und Schuld, und dazwischen ein ganzer Fächer widerstreitender Gefühle. Inspektor Salgado musste in einem Fall mehrere Zeugen vernehmen, und sie konnte ihn nicht sprechen. Aber das war egal. Was sie ihm zu sagen hatte, konnte warten.
Martina Andreu hatte sie vollkommen verstanden und alles in die Hand genommen. »Es ist besser so«, sagte sie noch. »Du kannst dir nicht vorstellen, was für einen Aufruhr es hier wegen der Akte gegeben hat.« Und Leire musste schlecht ausgesehen haben, denn was folgte, waren die gleichen Worte wie die von Frau Martorell: »Ruh dich aus, Leire.« Ja, diesmal wollte sie darauf hören, wollte nur zurück in ihre Wohnung, sich aufs Sofa legen und für den Rest der Schwangerschaft abschalten. Sie versuchte sich das Bild von Ruth aus dem Kopf zu schlagen, und sowenig es ihr gelang, war sie doch fest dazu entschlossen.
Weshalb sie, als sie vor ihrem Haus Guillermo antraf, ihm am liebsten gesagt hätte, er solle nicht mit hochkommen, es gehe ihr nicht gut. Aber der Junge machte einen so nervösen Eindruck, und sie selbst war so erschöpft, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als ihn hereinzubitten.
38
»Entschuldige, dass ich einfach so herkomme«, sagte er, als sie in der Wohnung waren. »Ich habe dich angerufen, aber du bist nicht drangegangen.«
Er zog das Handy heraus, um es ihr zu zeigen, und legte es auf den Couchtisch.
»Das macht doch nichts.« Sie ließ sich aufs Sofa fallen, das Zimmer drehte sich.
»Geht es dir nicht gut? Du bist sehr blass.«
»Mir ist nur ein bisschen schwindlig. Geht schon vorbei, sobald ich mich ein bisschen ausgeruht habe. Wenn du etwas trinken möchtest, nimm dir was aus dem Kühlschrank.«
Guillermo lehnte dankend ab, bot sich aber an, ihr etwas zu bringen.
»Ja, ein Glas Wasser, das wäre nett.«
»Klar.«
Er war gleich zurück, gab ihr das Glas und setzte sich neben sie.
»Du hast gesagt, ich könnte mit dir über meine Mutter sprechen.«
Ja, hatte sie, dachte Leire, nur stand ihr danach im Moment am wenigsten der Sinn. Sie trank einen Schluck und schickte sich an zuzuhören. Der Junge war besorgt, keine Frage. Trotz ihres Schwindels merkte sie es.
»Ich weiß, ich sollte es Papa erzählen«, sagte er, »aber seit Tagen ist er sehr beschäftigt, und ich dachte, vielleicht bespreche ich es erst mit dir.«
»Natürlich.« Das Wasser tat ihr gut. »Dann sag, ist etwas passiert?«
»Ja. Kennst du Carmen? Die Eigentümerin unseres Hauses?«
Leire kannte sie vom Hörensagen, und sie wusste, dass sie Héctor und seiner Familie sehr nahestand.
»Carmen hat einen Sohn«, fuhr er fort. »Er heißt Charly, aber er wohnt nicht bei ihr. Sie hatten sich seit Jahren nicht gesehen.«
Sie erinnerte sich, aus dem Mund von Inspektor Salgado etwas über diesen Charly gehört zu haben, und es waren nicht gerade Lobeshymnen gewesen.
»Also, Charly ist zurückgekommen, zu seiner Mutter.«
»Ich nehme an, er ist kein guter Umgang für dich«, wagte Leire sich vor. »Kennst du ihn gut?«
Guillermo schüttelte den Kopf.
»Ich konnte mich kaum an ihn erinnern, aber …«
»Aber was?« Die Neugier verdrängte das Schwindelgefühl.
Er zögerte, als wollte er jemandem nicht in den Rücken fallen.
»Aber er hat ein paarmal bei meiner Mutter übernachtet, in dem Loft.«
Leire saß nun kerzengerade.
»Was?«
»Ja. Papa hätte das gar nicht gefallen, und Mama hat mich gebeten, es ihm nicht zu erzählen. Sie meinte, Charly ist gar kein so schlechter Mensch, und außerdem tue sie das für Carmen. Wie Mütter so sind. Es waren nur drei oder vier Nächte, seit wir dort wohnten, und er blieb nie allzu lang. Ich hatte es ganz vergessen, aber als ich ihn jetzt wiedergesehen habe, dachte ich, dass es vielleicht etwas zu bedeuten hat, oder?«
»Vielleicht, ja. Gut, dass du es mir gesagt hast.«
»Glaubst du, er könnte ihr etwas angetan haben? Ich war damals die ganze Woche nicht zu Hause. Ich war in Calafell, bei einem Freund.«
Er schien so bedrückt, dass Leire ihn nur trösten wollte.
»Ich weiß es nicht, Guillermo, aber das ist unwahrscheinlich.« Natürlich wusste sie es nicht, aber sie bezweifelte auch, dass ein so komplexer Fall mit dem Auftauchen eines Halbganoven plötzlich gelöst war. »Sie hätten Spuren von ihm gefunden, er ist bestimmt
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