Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
vom Design spricht, das in nichts an Mutters Cremetöpfchen erinnert. Und nach ihr erläutert Brais Arjona, Brand Manager der Linie Y, in geschliffenen Worten, worauf das Marketing setzt: Jugend, Freiheit, Kreativität. Das alles kommt nun im zentralen Werbespot zum Ausdruck: Paula de la Fe, wie sie gerade aufgestanden ist, gezwungen, zur Arbeit zu gehen nach einer feuchtfröhlichen Nacht, deren Spuren rasch getilgt sind durch After Hours, die Star-Creme der Pflegeserie. Während sie sie sanft einmassiert, trällert Paula übernächtigt, aber glücklich den Refrain eines Lieds, und als der Spiegel ihr schließlich ein vollkommenes Bild schenkt, erklingt das Lied in voller Lautstärke, so dass jeder, auch wenn er vielleicht weder den Titel noch die Gruppe kennt, den Refrain versteht: »We are young, we are free«, das Motto der Kampagne, gedacht für jene, die das Lied kennen und ebendrum weder so young noch so free sind, wie sie gerne wären.
Am Ende der Vorführung gibt es freundlichen, fast aufrichtigen Beifall. Víctor verlässt das Rednerpult, und bevor er zum Tisch zurückkehrt, will er kurz in sein Büro und dort das Manuskript ablegen. Er geht schnell, solche Auftritte haben ihn schon immer nervös gemacht.
Auf dem Weg sieht er, dass in Sílvias Büro Licht brennt, und er tritt an die angelehnte Tür. Víctor erschrickt, als er sie aufstößt und vor Sara steht.
»Sara! Was machst du denn hier?«
Sara Mahler, immer so effizient, macht einen verstörten Eindruck. Und einen ungeschickten, denn während sie stammelt, ihr sei plötzlich eingefallen, dass Sílvia sie um einige Unterlagen gebeten habe, fällt ihr die Mappe aus der Hand. Ihr Chef ist so liebenswürdig und will helfen, doch sie bückt sich und sammelt rasch den Inhalt auf. Dabei sieht er etwas, auch wenn er es zunächst für unbedeutend hält.
Ein Foto, irgendwo auf dem Land, im Hintergrund Berge. Víctor hat kaum erkennen können, dass auf dem Bild ein Baum ist, aufgenommen von weitem, und noch weniger, dass etwas an seinen Ästen hängt, als Sara, wieder die Effizienz in Person, das Foto in die Mappe steckt und aus dem Büro tritt.
»Gehen wir, Víctor«, sagt sie nur. »Der Gastgeber sollte dem Fest nicht fernbleiben.«
21
Kaum zwölf Stunden später hatte der Streit zwischen Salgado und Bellver im ganzen Kommissariat die Runde gemacht, und sicher würde es keine weitere Stunde dauern, bis er höheren Ortes widerhallte. Héctor war um acht Uhr morgens zur Arbeit erschienen, und bereits auf dem Weg zu seinem Büro hatte er den einen oder anderen verstohlenen Blick wahrgenommen oder wie eine Unterhaltung plötzlich abbrach. Kommissar Savall gegenüber würde er das Thema ansprechen müssen, das war klar, aber bis dahin blieb ihm noch mindestens eine Stunde Ruhe. Ausreichend Zeit, sich noch einmal die Akten von Ródenas und Mahler vorzunehmen, ehe er zu Alemany Kosmetik ging, auch wenn er keine große Hoffnung in diesen Besuch setzte. Die Autopsie von Sara Mahler, reine Routine angesichts der Umstände, hatte nichts ergeben, was darauf hindeutete, das Opfer wäre nicht aus freien Stücken vor den Zug gesprungen. Und die Obduktion von Ródenas, dokumentiert zusammen mit den Berichten zu seiner Frau und seiner Tochter, ließ erst recht keinen Zweifel aufkommen. Trotzdem: Dass zwei Personen aus derselben Firma sich umgebracht hatten, zwei Personen, die dem Anschein nach ein so normales Leben führten wie die meisten Menschen, hielt seinen Instinkt wach, dem zu vertrauen Héctor im Laufe der Jahre gelernt hatte.
Noch einmal sah er sich das Foto an und versuchte in diesen stets gleichbleibenden Gesichtern zu lesen, jedes für die Nachwelt verewigt auf einem nicht gerade vorteilhaften Gruppenbild. Er achtete besonders auf die Gesichter von Gaspar und Sara. Sie lächelte, vermutlich weil die Person hinter der Kamera sie alle dazu aufforderte. Gaspar nicht. Gaspar Ródenas schaute konzentriert in das Objektiv, alszeigte man ihm eine nicht ausgeglichene Bilanz: die Stirn gekräuselt, der Körper angespannt. Ein Ausdruck, der Héctor an das Strandfoto neben Lolas Artikel erinnerte. Vielleicht war es einfach sein Fotogesicht, sagte er sich und legte das Bild wieder auf den Tisch. Er vertraute auf seinen Instinkt, ja, aber er wusste auch, dass man sich nur zu leicht von falschen Eindrücken beeinflussen ließ.
Hätte er zwei Minuten länger nachgedacht, hätte er sich gebremst. Vor allem weil halb neun am Morgen keine Zeit war, irgendwen anzurufen. Erst
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