Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
und plötzlichen Entscheidungen zu misstrauen. Vorsicht, Mäßigung, seny , der gesunde Menschenverstand, wohlüberlegte Argumente, die in sich zusammenfielen, als man bei Octavis Frau einen aggressiven Krebs feststellte, der sie zu einem baldigen Tod verurteilte. Und Octavi Pujades blieb nichts anderes übrig, als ihm in seinen grundsätzlichen Überlegungen recht zu geben, auch wenn er ihm eindringlich riet, die Verhandlungen weiter strikt geheim zu halten und vorsichtig zu sein bei Investoren, die mit Packen Bargeld vom Himmel zu fallen schienen. Da Octavi nun beurlaubt war, konnten sie sich beide mehrmals mit den zukünftigen Käufern treffen, hinter dem Rücken aller, besonders hinter Sílvias Rücken, nicht weil es in ihrer Macht gestanden hätte, einen Verkauf zu verhindern, sondern weil der Druck seiner Schwester eine zusätzliche Belastung gewesen wäre. Nur die verstorbene Sara hätte ahnen können, dass ihr Chef und der kaufmännische Leiter etwas im Schilde führten, aber Víctor zweifelte nicht an der Loyalität seiner Sekretärin.
Jetzt konnte er es nicht länger aufschieben. Schon an Weihnachten hatte er die Karten auf den Tisch legen undsich mit Sílvia aussprechen wollen, denn die Vereinbarung war so gut wie unter Dach und Fach. Doch Octavi riet ihm, bis Januar zu warten, bis zu diesem letzten Treffen, das gerade stattgefunden hatte, und Víctor kam zu dem Schluss, dass nichts Schlimmes daran war, sich noch ein wenig zu verstellen, so elend er sich auch dabei fühlte. Wie bei dem großen Firmenessen, seinem letzten Akt, dieser Komödie, die er der Belegschaft vollendet vorgespielt hatte.
Und als ihm jener Abend wieder in den Sinn kam, schnappte sich sein Gedächtnis, diese launische und verräterische Kraft, den Schnipsel, der ihm durch den Kopf segelte, seit der Inspektor mit dem argentinischen Akzent ihm das schreckliche Foto gezeigt hatte, und verband ihn, wie unter der Wucht eines Faustschlags, mit einer anderen Erinnerung.
»Jede Frau möchte sich schön fühlen.«
Die Stimme von Víctor Alemany, geschäftsführender Inhaber der Kosmetikfirma seines Namens, behauptet sich mühelos in dem Raum, auch wenn der Satz in manchen Ohren etwas zu pathetisch klingt, fehl am Platz in den jetzigen Zeiten. Dennoch beschränken sich die Anwesenden darauf, allenfalls eine belustigte Miene zu ziehen, die sogleich unter einer Maske höflicher Aufmerksamkeit verschwindet: nur hier und da ein Räuspern, das Klirren eines Dessertlöffels. Die fast hundert Personen in dieser Halle, für einen Abend ein nüchterner Bankettsaal, machen sich bereit, eine Rede zu hören oder wenigstens so zu tun, als hörten sie zu. Es ist schon Tradition: Jedes Jahr zu Weihnachten gibt es ein großes Firmenessen, jedes Jahr ergreift der Chef für ein paar Minuten das Wort, jedes Jahr wird am Ende freundlich applaudiert. Dann geht das Fest, wenn man es so nennen möchte, ohne Unterbrechung weiter. So dass die meistender Gesichter, die sich auf Víctor Alemany richten, ein gefälliges Interesse zeigen, nicht anders als beim Anblick eines Brautvaters, der es sich nicht nehmen lässt, einen Toast auf das glückliche Paar auszubringen. Niemand erwartet, dass er etwas Originelles sagt, auch nichts wirklich Interessantes. Man muss nur lächeln und hinschauen.
An diesem Abend jedoch, nach den sechs einleitenden Wörtern, gehen die Lichter langsam aus, bis der Saal im Dunkeln liegt, und hinter Señor Alemany erscheint, auf die Wand projiziert, die Reproduktion eines Gemäldes. Eine Frau mit weißer Haut und blondem Haar – so lang, dass sie sich damit ihre Scham bedeckt – steht, fast schwebend, auf einer großen Muschel, die über ein ruhiges Meer gleitet. Zu ihrer Rechten lässt ein sich umarmendes Paar geflügelter Götter mit dem Hauch ihres Atems ihr Haar wehen, und auf der anderen Seite reicht ihr eine weiß gekleidete Dame einen roten Umhang, als wäre die Schönheit der Schaumgeborenen zu viel für die armen Sterblichen. Alle kennen das Bild, auch wenn der ein oder andere wohl Schwierigkeiten hätte, den Namen des Gemäldes oder des Künstlers zu nennen. Aber es ist ja keine Prüfung in Kunstgeschichte, und sofort legt sich ein weiteres Bild über das vorherige, ein Detail der Frau, das Gesicht ebenjener Venus mit dem goldenen Haar. Ihre honigfarbenen Augen schauen ins Leere, der Teint ist, wenn auch an den Wangen leicht rosig, von makellosem Weiß, und der Mund mit den nur wenig vollen Lippen bleibt verschlossen, kein Lächeln.
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