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Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
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nichts tun. Hast du mich verstanden? Nichts.«

20
    Der AVE fuhr pünktlich um zehn nach neun aus dem Madrider Bahnhof Atocha, vollbesetzt mit Geschäftsleuten, die, das Notebook aufgeklappt, die drei Zugstunden nutzten, um zu arbeiten oder zumindest mit hoch konzentriertem Gesicht auf den Bildschirm zu schauen. In ihre Kampfanzüge gezwängt, warfen sie Bomben in Form von Brandmails oder brüteten über dem besten Angriffsplan. Jedenfalls sah Víctor Alemany sie an diesem Freitagmorgen so. Er selbst war bestens gelaunt, geradezu in Hochstimmung. In seinem Äußeren mochte er sich kaum von all den anderen Soldaten unterscheiden, doch in seinem Innern wusste er, dass der Krieg bald beendet war, abgeschlossen mit einem so einträglichen wie beeindruckenden Sieg.
    Es war eine intensive Woche gewesen, der Höhepunkt in diesem Marathon, der schon vor Monaten mit ersten Besprechungen begonnen hatte. Immer wieder hatte Octavi ihm zur Vorsicht geraten, und die Verhandlungen zogen sich so unerträglich in die Länge, dass er nach dem Sommer kurz davor war, einen Punkt zu machen und das Angebot einfach anzunehmen. Denn was Víctor vor allem wollte, war neu anfangen, mit Paula und ohne diesen Klotz am Bein. Ohne ein Familienunternehmen, das ihm seit frühester Kindheit wie ein siamesischer Zwilling anhing. Jahrelang hatte er geglaubt, der Kern seiner Existenz bestehe allein darin, die Firma zu führen, sie voranzubringen, zu expandieren. Und das hatte er auch geschafft, egal, was die Leute sagten. Aber wozu? Damit sein Leben sich nur äußerlich änderte: ein größeres Auto, teurere Anzüge, irgendeine absurde Reise an einen Ort, der Exotik nur vorgaukelte. Langweilig, ja, so war seine Wirklichkeit gewesen. Bis er Paulakennenlernte. Er musste lächeln bei dem Gedanken, dass er ausgerechnet dank der Firma und ihrer neuen Kampagne Paula de la Fe begegnet war. Nicht einmal ihr Gesicht sagte ihm etwas, da er kaum fernsah, erst recht keine heimischen Serien. Vielleicht war sein Umgang mit ihr deshalb so natürlich gewesen, vielleicht hatte sie ihm deshalb vertraut. Oder auch nicht. Egal, es lohnte sich nicht, über das Warum nachzudenken. Am Ende war nur eins wichtig: Er und Paula waren zusammen, die Langeweile schien in eine ferne Vergangenheit verbannt, und peu à peu hatte er begonnen, wirklich zu leben; nicht nur zu atmen, zu essen, zu schlafen oder auch zu vögeln, selten und eher mechanisch.
    Mit dreiundvierzig Jahren hatte Víctor Alemany sich auf eine Weise verliebt, wie es nur frustrierte Vierziger tun oder hässliche Entlein: maßlos. Er wollte mit Paula verreisen, den Tag mit ihr verbringen, und wenn er ein Monarch zu Feudalzeiten gewesen wäre, hätte er ihr sein Reich zu Füßen gelegt. Manchmal überkam ihn die Angst, er könnte zu weit gehen, wäre kurz davor, alles über Bord zu werfen, was sein bisheriges Leben ausmachte, und dieses Glücksgefühl, das ihn morgens überwältigte, bis er fast platzte, wäre nur der Auftakt zu einem Sturz ins Bodenlose. Dann dachte er an seinen Vater, gestorben im Bett einer jungen Nutte, nicht weil er es übertrieben hätte, wie Sílvia meinte, sondern weil sein Körper ein solches Vergnügen nicht gewohnt war. Auch das Herz rostet, dachte Víctor, aber er selbst hatte noch rechtzeitig reagiert. Und wenn dieses Organ erst einmal in Schwung war, gab es kein feindliches Feuer, das ihm etwas anhaben konnte.
    Die Entscheidung, Alemany Kosmetik zu verkaufen, war nach einem Gespräch mit Paula herangereift, einem Gespräch, bei dem er zum ersten Mal in seinem Leben jemandem gestand, wie sehr er sich langweilte. Und sie, jünger als er, hatte ihm eine Antwort gegeben, die an Klarheit nicht zu überbieten war: »Die Firma gehört dir, Víctor. Es ist deinUnternehmen. Du bist nicht wie die anderen Angestellten gezwungen, dort zu arbeiten. Du hast die freie Wahl.« »Wahl«, ein Wort, das bei den Alemanys wenig in Gebrauch war und wenn, dann im negativen Sinne. Seine Schwester zum Beispiel hatte vor Jahren eine »falsche Wahl« getroffen und die Folgen zu tragen. Und er, den sein Vater so oft wegen seiner Unentschlossenheit tadelte, erhielt den Großen Preis.
    Nun war der Moment gekommen zu wählen. Oder zumindest die Möglichkeit in Betracht zu ziehen … Er hatte Octavi Pujades um Rat gefragt, natürlich, und der hatte vor diesem Drang nach Veränderung gewarnt, der am Ende alles fortreißen könnte, zumal in einer Zeit, da die wirtschaftliche Situation es nahelegte, verlockenden Angeboten

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