Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
allzu schwer gewesen: Ein Bekannter im Gefängnis Brians II stellte ihr eine Sondergenehmigung aus, um als Privatperson Damián Fernández zu besuchen, den Anwalt, der Omar ermordet hatte und seit Monaten im Knast auf seinen Prozess wartete. Am nächsten Tag, Montagnachmittag um vier, würde sie mit ihm sprechen.
Dafür hatte sie nur wenig über das Mädchen auf dem Foto herausgefunden, das laut Ruths Mutter für ihre Tochter mehr als nur eine Freundin gewesen war. Patricia Alzina war im August 1991 bei einem Autounfall ums Leben gekommen, mit neunzehn Jahren. So wie Montserrat Martorell gesagt hatte, war der Wagen, mit Patricia am Steuer, in den Bergen des Garraf einen Abhang hinuntergestürzt. Schuld war, vermutete man, die Unerfahrenheit der Fahrerin und die kurvenreiche Straße an der Küste. Nur konnte Leire einfach nicht verstehen, warum Patricia diesen Weg gewählt hatte, statt die Autobahn zu nehmen, die schnurgerade durch die Berge führte. Jeder ungeübte Fahrer hätte das gemacht, trotz der Maut. Aber Ruths Mutter hatte keine weiteren Erklärungen geben wollen, und Leire konnte sich nicht aufraffen, die Familie der Verstorbenen ausfindig zu machen. Letzten Endes war der Unfall zwanzig Jahre her … Auch glaubte Leire nicht an Gespenstermädchen, die ihren Jugendfreundinnen an Straßenkurven auflauern. Nicht einmal an Abenden wie diesem, dachte sie mit einem Blick hinaus, wo ein Wind wehte, als wollte er den Toten Leben einhauchen. Du wirst makaber, Leire, sagte sie sich. Und Abel, der ihre Gedanken zu lesen schien, wies sie mit ein paar Tritten darauf hin, dass er Lust auf ein bisschen Bewegung hatte. Sie wusste nicht recht, wohin sie sollte, zog sich den Mantel an, in dem sie laut ihrer Freundin María aussah wie eine russische Liedermacherin, und ging auf die Straße.
Es war das erste Schlussverkaufs-Wochenende, was die Leute trotz der Kälte hinaustrieb, einer Kälte, die mit all ihrem Groll in die Stadt eingefallen war, als hätte sie seit Monaten darauf gelauert und schaffte es nun endlich, ein paar Passanten zu plündern. Die waren längst mit eingezogenem Kopf auf dem Rückzug, und ein klingender Wind, wie nervöse Äste und Laubwirbel ihn kennen, pfiff durch die Straßen und peitschte gnadenlos all jene, die sich noch auf die Bürgersteige trauten. Leire hatte kaum zwei Schritte getan, da wollte sie schon kehrtmachen, doch dann sah sie an der Ampel das grüne Licht auf dem Dach eines Taxis und entschied sich um. Es war ihr plötzlich eingefallen. Und auch wenn der Abend nicht zu Abenteuern einlud, siegte der Wunsch, ihren Plan gegen alle Logik durchzuführen, über die Elemente.
Sie nannte Ruths Adresse und fragte sich, wie sie nur auf die Idee kommen konnte, zu einer Wohnung zu fahren, die so trist war wie die grauen Tage vor ihr. Zu einer verschlossenen Wohnung. Aber vielleicht war es ja das Zusammenspiel von heulendem Wind und eisiger Luft, was sie zu diesem verlassenen Ort drängte. Oder sie musste sich nur noch einmal einen der Schauplätze dieses Falls ansehen, der seit zwei Tagen brachlag. So wie man ein geheimes Grab besucht, an dem man keine Blumen ablegen kann. »Eine verrückte Mutter hast du«, sagte sie leise zu Abel. »Aber ich verspreche dir, wir gehen sofort wieder nach Hause. Nur für ganz kurz.«
Das Taxi setzte sie vor dem Gebäude ab. Die Straße war so menschenleer, wie sie auch im letzten Sommer hätte sein können, an dem Wochenende, an dem Ruth verschwand. Leire ging erst einmal bis zur Ecke und sah nur ein Paar, das einen Hund ausführte. An einem frühen Morgen im Juli, wenn die Stadt noch verwaister war, hätte jemand Kräftiges Ruth töten und ihre Leiche ohne allzu großes Risiko in einenWagen legen können. Aber das wusstest du schon, schimpfte sie mit sich. Was zum Teufel machte sie also dort, außer Geld für Taxis auszugeben? Sie schaute zu dem großen Fenster der Wohnung hinauf, von der Straße aus gut zu erkennen. Und überrascht sah sie, dass dort Licht brannte.
Sie dachte, Carol sei oben, und klingelte. Und im selben Moment zuckte sie zusammen, denn genauso gut konnte es Héctor sein. Wenn er antwortet, renne ich weg, sagte sie sich, auch wenn Rennen in ihrem gegenwärtigen Zustand eher nicht infrage kam. Tatsächlich knisterte in der Gegensprechanlage eine männliche Stimme, noch jung. Es musste Guillermo sein.
»Hallo«, sagte Leire. »Ich bin … eine Freundin von …«
Sie musste den Satz nicht beenden. Ein metallisches Surren, und sie trat ins
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