Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Treppenhaus.
Der Junge erwartete sie oben an der Tür.
»Möchtest du zu meiner Mutter?« Er rührte sich nicht von der Schwelle und schaute sie nur an, mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen, auch als er bemerkte, dass sie schwanger war.
»Du musst Guillermo sein. Ich heiße Leire, Leire Castro. Vielleicht hat dein Vater mal meinen Namen erwähnt.«
Er sagte ja, blieb aber in der Tür stehen.
»Dürfte ich hereinkommen?«
Sie wusste zwar nicht genau, was sie ihm sagen sollte, aber ihr war klar, dass sich ihr eine goldene Gelegenheit bot, denn so konnte sie mit der einzigen Person aus Ruths Umfeld sprechen, zu der sie sonst kaum Zugang hätte. Und das wollte sie sich nicht entgehen lassen.
Der Junge ließ sich Zeit, überlegte. Dann drehte er achselzuckend um und machte den Weg frei. Leire folgte ihm, und zum zweiten Mal trat sie in diesen großen Raum mit den hohen Decken. Ruths Grab, dachte sie schaudernd.
Der Fernseher lief, und aus den Augenwinkeln sah sie aufdem Bildschirm eine junge Blondine im Bett. Aber es war nicht, was es auf den ersten Blick zu sein schien, denn sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen Porno in Schwarz-Weiß gesehen zu haben.
Guillermo ließ sich aufs Sofa fallen, und sie sah sich nach einem Stuhl um. »Du arbeitest mit meinem Vater zusammen, oder?«, fragte er.
Leire lächelte.
»Na ja, er ist mein Vorgesetzter. Aber jetzt bin ich beurlaubt. Wegen …« Sie zeigte auf ihren Bauch, und da sie fürchtete, seine nächste Frage kaum beantworten zu können, ohne als Verrückte dazustehen, beschloss sie, gleich selber zu fragen, im liebenswürdigsten Ton: »Und was machst du hier?«
Für einen Moment glaubte sie, er würde mit einem »Und du?« antworten.
»Ich war hier zu Hause. Jetzt komme ich manchmal her.«
»Klar.« Guillermo war so zurückhaltend, ohne jede Feindseligkeit, dass Leire aufrichtig sein wollte. Jugendliche ertragen es nicht, wenn man sie anlügt, dachte sie. »Es wird dir merkwürdig vorkommen, dass ich einfach so auftauche. Aber du weißt … Du weißt, dass wir weiter nach deiner Mutter suchen.«
Guillermo wandte den Blick ab und schaute angespannt auf den Bildschirm.
»Hast du dir einen Film angesehen?« Sie musste sich umdrehen, um selber etwas sehen zu können.
»Ja, Außer Atem .«
»Ist er gut? Ich habe ihn nie gesehen.«
Wieder zuckte er die Achseln. Als er dann antwortete, sprach er wie ungerührt.
»Es war der Lieblingsfilm meiner Mutter.«
Und in dem Moment spürte Leire – vielleicht weil Abel sie veränderte, weil das Wochenende so merkwürdig gewesen war und der Sonntagabend noch unerwarteter –, wie sich in ihr so etwas wie Mitleid mit dem Jungen regte, mit diesem Jungen, der Zuflucht suchte in einer Wohnung, in der seine Mutter gelebt hatte. Einem großen, stillen Raum, wo Ruths Echo überall war.
Guillermo musste etwa vierzehn sein, aber er war nicht sehr groß und immer noch mehr Kind als Jugendlicher. Sie betrachtete ihn, zumindest äußerlich hatte er sehr viel mehr von Ruth als von Héctor. Sein Blick aber war ernst. Ja, das war das Wort. Nicht traurig, nicht ergriffen, nur ernst. Wie bei einem älteren Menschen. Das Licht einer Stehlampe zeichnete einen starren Schatten an die Wand.
»Ich weiß, ja, ich bin einfach so hereingeschneit, und natürlich verstehe ich, dass du keine Lust hast, mit mir zu sprechen. Du kennst mich ja auch gar nicht.« Sie versuchte, möglichst locker zu klingen. »Aber glaub mir, wir tun alles, um herauszufinden, was mit deiner Mutter passiert ist.«
»Man hat den Fall meinem Vater weggenommen.« Er sprach unaufgeregt, knapp. Ernst.
»Gegen seinen Willen, das kann ich dir versichern«, sagte Leire. »Deshalb nutze ich meine Beurlaubung und ermittle ein bisschen auf eigene Faust. Er weiß nichts davon. Ich wäre dir dankbar, wenn du es ihm nicht sagst. Er kreuzigt mich sonst.«
Zum ersten Mal lächelte Guillermo, stumm.
»Und wovon handelt er? Ich meine, der Film. Ist er gut?«
Er schüttelte den Kopf, als schmerzte es ihn, das sagen zu müssen.
»Nein, ziemlich öde. Ein Gangster wird von der Polizei gesucht und verspricht seiner Freundin, dass sie zusammen fliehen. Sie liebt ihn, aber am Ende verrät sie ihn. Und er wird erschossen.«
Er sagte es, als wäre so etwas unbegreiflich, und wahrscheinlich war es das auch für einen Jungen in seinem Alter.
»Ich weiß nicht, warum sie es tut«, fuhr er fort. »Meine Mutter meinte, weil sie ihn zu sehr liebt und weil das einem manchmal Angst
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