Der eiserne Gustav
Sie weiß, sie bekommt das Schloß nicht auf, und sie weiß, der Erich wird vielleicht darum unglücklich, vielleicht hängt er sich sogar darum auf, aber sie wird doch nicht den Otto rufen oder den Schlosser. Sie kann nicht aus sich heraus.
Sie sitzt da und grübelt. Sie hat die primitive Phantasie einer Siebzehnjährigen. Sie versucht, sich den Keller vorzustellen, ob da Haken sind und Stricke, ob er auch hoch genug ist dafür … Aber dann fällt ihr ein, sie hat mal in der »Mottenpost« gelesen, einer hat sich an der Türklinke aufgehängt. Und nun fällt ihr ein, daß Erhängte eine blaurote, geschwolleneZunge aus dem Munde strecken und daß sie in die Hosen machen sollen …
Da überwältigt sie der Schrecken, sie springt auf und fängt an zu schreien und schlägt mit dem Hammer gegen die Kellertür, sie trommelt und brüllt: »Tu es nicht, Erich! Tu es nicht, deiner Mutter zuliebe!«
Es ist nichts Bewußtes, was sie tut, sie hört nicht einmal, was sie schreit. Aber das gemarterte Herz in ihr quält sich, und sie tanzt herum, tanzt ihren grotesken Schmerzenstanz … Und als Otto und Rabause erschrocken die Kellertreppe hinabstürzen und angstvoll fragen: »Was ist denn los?«, da schreit sie nur und deutet: »Er hängt sich auf! Jetzt hängt er sich auf!«
Oh, dieses Leben ist eine komplizierte Sache: Wäre Frau Auguste Hackendahl ein wenig bewußter, wacher, klüger, so würde man sagen, sie hat dieses ganze Theater bloß darum aufgeführt, damit die Männer für sie die Kellertür aufbrechen, damit sie doch ihr Ziel erreicht, nicht an der Kleinigkeit eines Schlosses scheitert. Denn ihr Geschrei, ihr Weinen, ihre Aufregung, ihre panische Angst verhindern alle Fragen, wortlos arbeiten die Männer an Schloß und Tür, und sie steht stöhnend daneben und bettelt: »Macht bloß schnell! Jetzt tut er es!«
Aber Frau Auguste Hackendahl ist nicht so raffiniert, sich so etwas auszudenken und durchzuführen. Sie fühlt wirklichen Schmerz, sie hat wirkliche Angst – und sie selbst ist die Überraschteste, als sie, nach dem Aufbrechen der zweiten Tür, den Sohn Erich ruhig auf seiner Kiste sitzen und an seinem Brotkanten kauen sieht.
»Ich dachte …«, stammelt sie und verstummt.
Nein, nichts von Erhängen, aber da sie nun, wenn auch ohne es zu wollen, ihr Ziel erreicht hat, überläuft sie ein Glücksgefühl. Sie lehnt in der Tür; mit halb geschlossenen Augen sieht sie den Sohn an und murmelt: »Es ist schon gut, Erich.«
Die drei Befreier sehen auf den Befreiten. Fast schämen sie sich ihrer Aufregung, da sie ihn so ruhig sehen, und sie haben wie vom Tode gehetzt an den Türen gearbeitet!
»Ihr seid ja mächtig mutig, ihr drei!« sagt Erich, steht auf und streckt sich. »Siehe da, Otto, das Mustersöhnchen – das wird dir Vater gewaltig krummnehmen. Und der olle ehrliche Rabause – na, dich setzt Vater gleich auf die Straße! Und Mutter auch …? Ja, du, Mutter …«
Jetzt schämt sich sogar dieser kalte Mensch ein wenig und schweigt.
Alle schweigen, bis es wieder Erich ist, der zu reden anfängt. (Es ist seltsam, dieser siebzehnjährige Bengel tut so, als sei er ihnen allen an Lebenserfahrung weit überlegen, als sei er der Älteste und nicht der Jüngste, und sie akzeptieren das.) Erich also fragt: »Und was nun? Was für Pläne habt ihr mit dem verlorenen Sohn? Oder holt Vater schon das Mastkalb zum Versöhnungsschmaus?«
Jetzt wird es zuerst dem Rabause zu dumm. »Es fehlt nicht viel an der Zeit, Erich«, sagt er, »und der Chef kommt zurück. Und wem dann sein großes Maul ins Wasser fällt, den kenn ich auch!«
Spricht’s und geht.
Erich lacht spöttisch, aber es klingt gezwungen, denn der nahende Vater jagt auch ihm Furcht ein. »Also, Mutter, was soll werden? Ihr werdet doch nicht so dumm gewesen sein, mich hier nur rauszuholen, und habt nichts für mich bereit? Geld? Sachen?«
Die beiden schweigen. Ja, nun stellt es sich heraus, daß sie wirklich so dumm waren. Dem Kaltsinn des Bruders gegenüber haben sie sich recht unüberlegt benommen.
»Mutter hat geglaubt, du tust dir was an …«, sagt schließlich Otto halblaut.
Erich ist aus allen Wolken gefallen. »Ich mir was antun …? Aber wieso denn? Wegen dem Dreck? Wegen ein bißchen Keller und achtzig Mark?! Ihr seid ja komisch!«
»Nicht wegen achtzig Mark«, sagt Otto wieder.
»Wegen was denn? Du meinst wegen Ehre und Schande und so? Was geht mich denn Vaters Ehre und Schande an? Gar nichts! Ich habe meine eigene Ehre und Schande,
Weitere Kostenlose Bücher