Der eiserne Gustav
mitgenommen haben aus diesen Stunden. Denken Sie noch manchmal an Ihren Homer …?«
»Ich lebe in einer so anderen Welt …«
»Also auch nicht«, sagte der Lehrer betrübt. »Auch er nicht. So viele ich frage. Sehen Sie, Hackendahl, wenn man alt geworden ist, dann fängt man an, sich zu fragen: Warum hast du eigentlich gelebt? Was hast du geleistet? Da draußen ist so viel eingestürzt von dem, was uns älteren Menschen lieb und wert war, und alle Tage stürzt noch mehr ein … Aber ich habe mich dann trösten wollen, ich habe mir gesagt: Du hast über tausend junge Menschen belehrt, du hast sie eingeführt in eine Welt der Schönheit, des Männermuts, von Liebe und Kampf … Aber es ist nichts damit, euch allen bedeutet diese Welt gar nichts, es ist ein falscher Trost …«
Der Professor sah den alten Schüler nicht mehr an, er sah nieder auf den Schreibtisch, auf das verbrauchte, grüne Tuch, auf dem die Arbeiten von tausend jungen Menschen gelegen hatten. Er hatte sie gelesen, zensiert, hatte verbessert, gemahnt, angefeuert, gelobt und getadelt. Aber es war nichts davon geblieben. Es war genauso, wie wenn ein Kind Striche in den Sand zieht; der Tau macht sie undeutlich, der Wind trägt den Sand fort, der Regen löscht die Striche aus: Es bleibt nichts. Reine Spielerei!
Der Schüler Hackendahl sah auf den alten Lehrer, er sagte: »Herr Professor, wir, die wir jetzt arbeitslos sind, wir denken auch oft wie Sie: Wozu leben wir eigentlich? Wir dürfen gar nichts leisten. Wenn ich da auf der Stempelstelle stehe – das istein Ort, Herr Professor, wo wir alle Tage hin müssen, um zu beweisen, daß wir auch wirklich nichts arbeiten, denn das ist heute unsere einzige Pflicht, nichts zu tun –, wenn ich da also auf dieser Stempelstelle zwischen den anderen bin, dann ist mir so, als würde ich unfaßbar schnell immer älter. Es ist so schwer zu erklären: als sei ich eben noch jung gewesen, und als würde ich nun unendlich schnell alt. Dazwischen aber liege gar nichts: keine Leistung, keine Freude, nur ein unfaßbar schnelles Altern …«
»Wie bei mir«, murmelte Professor Degener. »Ich wollte auch noch nicht alt werden, und plötzlich war ich es und merkte, ich hatte noch nichts getan …«
»Da ist einem die Schulzeit«, sagte wieder Heinz Hackendahl, »unendlich weit ab, als sei sie nie richtig gewesen. Aber«, sagte er und legte sachte seine Hand über die dünne, weiße, blauädrige Gelehrtenhand, »aber wenn man auch nicht an die ›Ilias‹ denkt und nicht mehr an die ›Antigone‹ – ich habe immer an etwas gedacht, was Sie mir einmal gesagt haben. Sie haben mir einmal gesagt, als es mir ganz schlecht ging: Man kann in den Dreck fallen, aber man muß nicht darin liegenbleiben. Und ein andermal, als ich große Pläne hatte, haben Sie gesagt: Zuerst die Zelle gesund, sonst kann der Körper nicht gesund werden …«
Der Professor schüttelte unzufrieden den Kopf. »Das sind so Sprüche, Hackendahl. Die kann Ihnen jeder sagen, das ist nichts. Das hat nichts mit Griechentum und meiner Lebensarbeit zu tun.«
»Gewiß, solche Sprüche kann man vielleicht überall hören, Herr Professor. Aber überall haften sie nicht. Nicht, wenn sie irgendeiner sagt, helfen sie. Weil Sie mir das gesagt haben, deshalb hat es geholfen.«
Wieder war der Professor nicht zufrieden. »Ach, Hackendahl, weil es Ihnen grade schlecht ging, weil Ihr Herz aufgeschlossen war grade damals, deswegen hat es gewirkt. Das hat gar nichts mit mir zu tun. Hundertmal können Sie sagen ›Ehrlich währt am längsten‹, und keiner hört hin. Aber wennSie es grade einem sagen, der etwas Unehrliches tun will dann haftet es. Nein, das hat alles nichts mit mir zu tun.«
Und er stützte wieder den Kopf in die Hand.
»Sie wollen mir durchaus nicht geholfen haben, Herr Professor. Aber darum haben Sie es doch getan. Wenn es so wäre, daß es ganz egal ist, wer unser Lehrer gewesen ist, wenn statt Ihrer auch ruhig ein anderer den zweiten Aorist mit uns hätte pauken können, nun, warum kommen wir dann immer noch zu Ihnen, besinnen uns immer wieder auf Sie? Den Homer habe ich vielleicht für eine Weile vergessen, aber den Professor Degener habe ich nicht vergessen. Und so geht es doch vielen.«
»Es kommt kaum einer mehr«, sagte der Professor. »Es geht fast nie mehr die Klingel.«
Aber gerade, als er das sagte, ging draußen die Klingel, und herein trat ein alter Klassenkamerad von Heinz Hackendahl, der Hoffmann; größer geworden, massiger
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