Der eiserne Gustav
stundenweiten Friedhöfen. Er kommt durch Verdun, einmal stand in den Zeitungen der ganzen Welt tagtäglich dieser Name Verdun, in die Herzen aller Daheimgebliebenen war er eingegraben als der Schauplatz unerhörter Anstrengungen und Opfer …
Jetzt ist es bloß ein Städtchen mit zwölftausend Einwohnern. Aber um die Lebenden wohnen die Toten, die Gräber von fünfhunderttausend Toten bedrängen die Wohnstätten der zwölftausend Lebenden!
Er fährt hindurch, er fährt hindurch. Viele Tage fährt er hindurch. Er hat gelernt, daß schwarze Kreuze deutsche weiße Kreuze französische Kriegsgräber bedeuten. Neben den Landstraßen liegen die Friedhöfe; wo er hinsieht, liegendie Gräber, sie steigen über Hügel und Berge, die Täler sind erfüllt von Kreuzen. Wie viele schwarze Kreuze!
Es ist nicht zu vermeiden, daß er an Otto denkt, der einmal sein Sohn war. Er ist auch hier gefallen, in dieser fremden Erde muß er liegen … Er versucht sich an den Ortsnamen zu erinnern. Viele Namen weiß er noch, unauslöschlich durch die Heeresberichte eingeprägt: Bapaume, Somme, Lille, Péronne … Aber den Namen von Ottos Friedhof weiß er nicht mehr, wenn er ihn je gewußt hat …
Manchmal hält er Grasmus an, er steigt schwerfällig vom Bock, geht über den Graben, auf einen der Friedhöfe, irgendeinen, geht die endlosen Kreuzalleen entlang, bleibt hier stehen oder dort – gleichviel. Er steht dann eine Weile, manchmal kommen Friedhofswärter, Gärtner an ihn heran, suchen zu erfahren, welches Grab er sucht. Er schüttelt den Kopf, es kommt nicht darauf an.
Es ist jedes Grab recht und keines. So nahe stand ihm der Sohn nie, daß es ein bestimmtes Grab hätte sein müssen … Sie alle, die hier liegen, waren viel jünger als er, als sie sterben mußten, er ist unendlich viel älter als sie. Und jetzt sind sie zeitlos geworden, aber er ist noch immer in der Zeit, er möchte beinahe fragen, warum?
Wenn er da so steht, kommen die Touristen in Scharen an ihm vorüber, von Führern geleitet, alle Sprachen hört er … Wenn er weiterfährt, wenn die Droschke über die langen, grauen Straßenbänder schaukelt, rasen die großen Aussichtsautobusse an ihm vorüber, vollgestopft mit Engländern, Amerikanern … Die Führer tuten in ihre Megaphone … In Trupps und einzeln weht das an ihm vorüber … Neugierige und Trauernde, Leere und die immer noch ganz von Trauer erfüllt scheinen … Noch immer wehen Witwenschleier, noch immer knien Mütter an den Gräbern ihrer gefallenen Söhne …
Er fährt weiter, immer weiter. Er fährt durch die Ruinen, die künstlich als Ruinen erhalten werden, die Schaulustigen sollen auch etwas anderes als Gräber zu sehen bekommen. Auf den Wegweisern steht: »Zu den Schlachtfeldern«. Nebenden Friedhöfen sind Hotels erstanden, damit die trauernden Lebenden nahe bei ihren Toten wohnen können. Noch immer wird der Boden durchwühlt nach Waffen, nach Granaten, und noch immer werden Tote gefunden, Skelette, die die Friedhöfe weiter vergrößern. An den Wegen sitzen die Andenkenverkäufer, Bleistifte, Vasen, Aschenbecher aus Patronenhülsen und Granaten werden verkauft.
Die Toten halten alle Äcker besetzt. Es wird nicht mehr gepflügt, gesät, geerntet – sondern die Toten ernähren die Lebenden. Eine ganze Provinz lebt von ihnen, lebt vom Krieg, der vorüber ist und der doch nicht vorbei ist.
Hier bereiten die Menschen dem alten Hackendahl keine jubelnden Empfänge. Sie sehen sich kaum nach der Berliner Droschke um. Hier sind sie die seltsamsten Gestalten gewohnt, Besucher aus aller Welt, Neugierige aus Australien, Trauernde aus Asien, dunkle Gestalten aus Afrika.
In den Herbergen muß er Quartier nehmen wie jeder andere Besucher. Schwer ist es oft, Stall und Futter für den Braunen zu finden. Er muß zahlen wie alle …
Oft trifft er Deutsche. Sie gehen auf die Friedhöfe, sie nicken ihm zu. Ach ja, sie haben von ihm gelesen. Schön – wie lange ist er schon unterwegs? Sehr gut. Ja, nun müssen sie weiter, sie müssen ihre Toten suchen. Es ist so schwer, hier unter all den Toten einen bestimmten Toten zu finden! Alle Gräber gleichen einander! Hat er hier auch jemanden von seiner Familie? Einen Sohn? Ja, natürlich, jeder hat hier irgendeinen Toten zu liegen, es gibt wohl kaum eine Familie, die verschont ist! Hat er das Grab schon gefunden? Nun, er wird es schon finden, sie geben hier gerne Auskunft …
Aber er sucht nicht mehr. Er meint, es kommt nicht sei genau darauf an. Alle Gräber
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