Der eiserne Gustav
Plätze der Stadt, die Haltestellen der Droschken, die Schupos – das alles ist sein Lebensatem geworden, nahrhaftes Brot, nach dem er jetzt immer Hunger trägt. Als sie einmal ein Schlagerlied von Berlin spielen, von der Straße Unter den Linden, die wieder grün wird, muß er in den Stall laufen, um bei Grasmus die Tränen zu verbergen. Er, der sich nicht erinnern kann, je geweint zu haben!
Aber das alles kommt und geht. Es bleibt nicht. Was bleibt, sind die Jubelnden. Er fährt durch sie, er ist alt, er sieht auf sie herab – von ferne her. Dunkel ist ihm, als bestätigten sie das, was er sein Lebtage gewollt hat. Trotz seines Abstiegs vom Fuhrherrn zum kleinen Kutscher, trotz seiner Mißerfolge mit den Kindern, trotzdem ihm fast alles mißglückt ist im Leben, trotzdem sie jung sind und er alt – trotz alledem jubeln sie ihm zu. Weil er durchgehalten hat, weil er eisern gewesen ist, weil er sich nie aufgegeben hat. Weil er immer geglaubt hat, es hat einen Sinn zu leben, weiterzuleben, auch wenn es einem schlecht geht.
Sie bejahen sein Leben, er das ihre …
Sie jubeln – und er fährt weiter.
Und nun nähert er sich der Grenze.
12
Bei Diedenhofen überschreitet er dann die Grenze, verläßt zum ersten Male in seinem Leben deutschen Boden. Und siehe, da ist er noch einmal, der Jüngling aus dem Zeitungshaus, der brandrote Grundeis. »Na, Vater Hackendahl, heutwird’s richtig, was? Kann ich melden: Wir überschritten die Grenze?«
»Na wat denn? Natürlich doch! Wat denn sonst?«
»Angst haben Sie nicht? Mich sehen Sie nun vor Paris nicht wieder!«
»Angst? Vor wat soll ick denn Angst haben? Mir beißt keener! Aber det sare ick Ihnen, jetzt koofen Se mir erst uff Jeschäftsunkosten eenen neuen Striegel und ’ne neue Kartätsche fürs Pferdeputzen!«
»Kommen so lausige Zeiten?«
»I wo! Aber im letzten Kaff, wo Grasmus und icke übernachtet ham, da ham mir doch die Schweine, diese Schweine, glattweg Striegel un Kartätsche uffjefressen. Reine wechjepriemt, es is nich zu sagen! ›Ihr füttert ja eure Schweine hier ulkig‹, hab ick den Leuten jesagt; ›wenn ihr die mal schlachtet, von der Wurscht braucht ihr mir ooch nischt abjeben‹, habe ick jesagt.«
Lachend fährt Hackendahl über die Grenze, dem Häuschen mit den französischen Zollwächtern und Soldaten zu. Von Angst kann keine Rede mehr sein, dem jungen Mann hat er es gesteckt!
»Bonjour!« begrüßt er, lange vorbereitet, die Franzosen.
Sie lachen. »Guten Tack!« rufen sie. »Guten Tack!«
Vom Schlagbaum aus sieht Grundeis zu. Und muß gleich eingreifen, denn schon sind auf beiden Seiten die fremden Sprachkenntnisse erschöpft. Und es ist gar nicht einfach mit dem Zoll. Bürgschaft muß hinterlegt werden, daß Wagen und Pferd spätestens in einem halben Jahr Frankreich wieder verlassen, Verpflichtungen müssen unterschrieben werden. Der eiserne Gustav ruft über den Schlagbaum: »Na, wenn ick vorher sterbe, müssen Se selbst die Droschke zurückfahren, Rotkopp!«
»Tu ich, mach ich. Gerne! Aber Sie sterben doch nie, Hackendahl, unverwüstlich!«
Und er sieht dem alten Mann lange nach, sieht ihm noch nach, als er ihn schon längst nicht mehr sieht. Grundeis istnicht mehr Redaktionsvolontär, er ist emporgestiegen wie ein strahlender Meteor. Die Fünfzeilennotizen muß nun jemand anders schreiben …
Aber dem noch Unerreichten gegenüber hat man stets nur wenig erreicht. Grundeis fleht jetzt, daß der alte Mann Paris erreicht. Die Empfänge in Paris, die Artikel über Paris werden alles bisher Geschriebene übertreffen. Nur noch Paris! Bitte! Bitte! fleht Grundeis in sich das Schicksal an, während er der entschwundenen Droschke nachstarrt.
Und die Droschke fährt und fährt. Es ist nicht so schlimm, wieder einmal hätte man keine Angst haben müssen. Denn die Leute hier sind Lothringer, sie sprechen deutsch, sie können sich mit ihm verständigen. Es sind natürlich nicht die jubelnden Empfänge wie in Deutschland. Es geht alles leise, fast bedrückt zu. Es ist, als lebe hier, zehn Jahre nach Kriegsende, der Krieg noch viel stärker als in Deutschland, das doch das besiegte Land sein soll … als lebe er als Druck stärker bei den »Siegern« …
Dann sieht Gustav Hackendahl nicht nur in den stilleren Gesichtern der Bewohner, wie sehr der Krieg in diesem Lande noch lebendig ist. Von Conflans-Insray bis Chalons-sur-Marne, viele Tage lang rollt sein Wagen über alte Schlachtfelder, durch zerschossene Dörfer, zwischen
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