Der eiserne Gustav
füllen, wie hereinging. (Aber meist wurde es statt Leben nur Alkohol.) In Lille hatte er wieder Zeit, sein Zug ging erst am Mittag. Zögernd, unentschlossen stand er vor dem Bahnhof. Er hätte Erich besuchen können, der nach der Mutter Bericht hier auf irgendeiner Schreibstube irgendeine sehr wichtigeund sehr verdienstvolle Funktion erfüllte. Aber er konnte sich nicht dazu entschließen.
Statt dessen beschloß er, sich die Stadt ein wenig anzusehen, und langsam bummelte er los. Gleich umfing ihn der Wirbel der Etappe. Er sah staunend in die mit Luxusdingen gefüllten Schaufenster, auf die geschniegelten Offiziere, die, das Monokel eingeklemmt, mit Sporenklingeln, an ihm vorübergingen. Über dem Handgelenk hing an der Lederschleife ein Reitstöckchen. Ordonnanzen liefen wichtig mit Aktentaschen, ihre fleckenlosen Hosen hatten gebügelte Falten, in dem Glanz ihrer Schuhe spiegelte die Sonne.
Plötzlich wurde er sich bewußt, wie er aussah in seinem nur notdürftig gereinigten Waffenrock, dessen Stoff entfärbt und verfilzt war, und mit seinen klobigen, schlecht geschmierten Schuhen, an denen noch der Grabenschlamm klebte.
Die Offiziere eilten an ihm vorüber, sie sahen ihn nicht, sie beachteten ihn nicht. Auf der Fahrbahn glitten die großen Autos, an den Kühlern steckten die Ehrfurcht gebietenden Fähnchen der Stäbe, in einem leeren Auto saß gelangweilt und hochmütig ein großer russischer Windhund. Zwei Krankenschwestern gingen an ihm vorüber, sie hatten rosige, vergnügte Gesichter.
Otto Hackendahl machte kehrt, er ging zum Bahnhof zurück. Er hatte hier irgendwo ein Stündchen in Ruhe sitzen und ein Glas Bier trinken wollen, aber er wollte nicht mehr. Ein fetter, dunkel aussehender Zivilist mit traurigen Augen fragte ihn irgend etwas wegen des Weges. Gereizt erwiderte er, daß er hier auch nicht Bescheid wisse, und war froh, als er den Bahnhof wieder vor sich sah.
Er setzte sich traurig und zornig an einen Holztisch, zwischen andere Urlauber, die wie er auf ihre Heimatzüge warteten und die aussahen wie er. Ein Mann hob den Kopf, als er ihn sein Bier so ärgerlich beim Kellner bestellen hörte, und fragte: »Na, Kamerad, auch die Stadt angesehen? Feiner Betrieb, was?«
Der Mann legte den Kopf wieder gähnend auf die Tischplattezurück. Er sagte: »Da sieht man erst, was für ein dummes Schwein unsereiner ist! Diese Brüder! Diese Speckjäger! Aber recht haben sie – was, Kamerad Schwein?«
Otto antwortete nicht. Die Trauer würgte in seinem Hals. Er verfluchte sich, den Leutnant Ramin, den Urlaub. Wäre ich von meinem Regiment nicht fortgelaufen, hätte ich diesen Mist nie gesehen, dachte er immer wieder.
Er überlegte, ob er nicht doch lieber umkehren sollte.
8
Der fette, schwarz gekleidete Zivilist, der Otto vergeblich um Auskunft gebeten hatte, erfuhr unterdessen von einem Feldgendarmen, wohin er sich zu wenden hatte. Er ging langsam weiter, stieg eine Treppe hinauf, verhandelte mit einer Wirtin, ging über den Flur, klopfte und trat ein.
»Guten Morgen, Erich«, sagte der Abgeordnete.
Erich saß an einem Spiegeltischchen und manikürte mit Bedacht seine Nägel. Er hatte schon die Reithose an (die teure Kordhose von Benedix für 150 Mark) und die glänzend lackledernen Reitstiefel, aber über der Taille war er mit einem rohseidenen Oberhemd bekleidet.
»Sie, Herr Doktor!« rief er verlegen. »Sie hätte ich nie hier in Lille erwartet!«
»Ganz offiziell, mein Junge«, sagte der Abgeordnete beruhigend. »Eine Frontreise von Abgeordneten aller Fraktionen auf Einladung des Oberkommandos. Nichts, das dich kompromittieren könnte.«
»Herr Doktor …!« sagte Erich verlegen.
»Nun, nun. Keine falsche Scham. Jeder sieht, daß er vorwärtskommt.« Er betrachtete Erich wohlwollend. Der Junge war nun in seinen Waffenrock gefahren, die Achselstücke glänzten silbern. »Ich sehe, man kann dir zum Leutnant gratulieren. Du machst deinen Weg.«
»Seit vorgestern«, sagte Erich. »Ich hätte es schon längstwerden müssen – aber Sie können sich ja denken, Herr Doktor: Vaters Beruf …«
»Aber das Ziel schien es dir wert, und du hast es also geschafft!« Die Stimme des Abgeordneten klang ein wenig spöttisch, aber sein Gesicht blieb weiter wohlwollend. »Die Ideale hast du also eingemottet, statt ihrer trägst du seidene Oberhemden?«
Wieder wurde Erich rot.
»Alle Offiziere tragen nur noch Seidenwäsche«, sagte er trotzig.
»Auch im Schützengraben?« fragte der Abgeordnete.
»Ich bin
Weitere Kostenlose Bücher