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Der eiserne Gustav

Der eiserne Gustav

Titel: Der eiserne Gustav Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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Sekunde ließ sie den Kopf frei. Sie saß ihr im Munde, sie füllte die Mundhöhle mit einem staubigwolligen Geschmack, sie machte die Knie schlaff. Immer wieder der Hebel, der wie ein lebendiges Ding ihrer Hand entgegenzukommen schien, der graue Strom, die Hände der anderen, die zwischen die Messer griffen …
    Eva seufzte. Es war nur noch eine halbe Stunde bis zum Schluß der Nachtschicht, aber diese halbe Stunde schien vollkommen unüberwindlich. Sie dachte an das Bett, an das schöne, warme Bett, an Schlaf und Vergessenheit.
    Sie wußte, Tutti stand jetzt schon vor irgendeinem Fleischer-oder Bäckerladen, aber das Bett, das die eine am Tage, die andere in der Nacht benutzte, war schon glattgezogen und wartete auf sie. Sie mußte nur noch eine halbe Stunde auf den Hebel drücken, dann durfte sie heimgehen, konnte schlafen!
    Aber die Zeit war so endlos bis dahin, gerade die letzte Viertelstunde war immer die schlimmste!
    Sie erinnerte sich an die Schule – sie drückte den Hebel nieder –, an die allerletzten drei oder fünf Minuten vor dem Klingeln – sie ließ den Hebel los –, gerade da war oft noch etwas geschehen, was alle Freude an dem freien Nachmittag – der Hebel kam ihrer Hand entgegen, in sie hinein – zerstört hatte. Und wenn auch nichts geschah – sie drückte den Hebel nieder, und die Messer senkten sich –, diese letzten Minuten waren schon damals unüberwindlich gewesen. – Der Hebel war losgelassen, und jetzt kamen die Hände der anderen Arbeiterinnen. – Es war alles beim alten geblieben, vieles hatte sie erlebt – jetzt hatten die Hände die Stäbchen geholt, der Hebel kehrte in ihre Hand zurück –, aber sie ging immer noch zur Schule. – Sie drückte auf den Hebel, die Messer senkten sich. – Wie als Kind hatte sie noch immer die letzten, tödlichen Minuten in all ihrer Grauenhaftigkeit zu ertragen.
    Wie in der Schule! Darum erfuhr man vieles im Leben, erlittSchlimmes, durchwartete es, nahm Schweres auf sich – damit man immer weiter in die Schule ging, aber nichts dazulernte. Die Zensuren, die einem das Leben erteilte, mußten ja schlecht sein. Man wurde auch nie versetzt, ewig blieb man sitzen auf derselben Schulbank.
    Eva Hackendahl sieht über die Reihen der Arbeitenden. Sie sieht aus den grauen Arbeitsblusen die Hälse kommen, sie sieht die über den Tisch gebeugten Nacken – gebeugte, müde, überlastete Nacken. Sie weiß, alle diese Frauen, fast alle, haben es schwerer als sie, der Tutti die Tagesgeschäfte fast ganz abnimmt. Alle diese Frauen gehen nur darum zur Nachtschicht, weil sie Kinder zu versorgen haben. Kaum heimgekehrt aus der Fabrik, haben sie zu waschen, anzuziehen, Frühstück zu machen, in die Schule zu schicken. Sie rennen in die Lebensmittelläden, mit vor Müdigkeit zitternden Knien stehen sie Schlange, jetzt muß noch ein Sack Kohlen geholt werden – weiter, los! Sie stehlen sich am Tage drei, vier, wenn es viel wird, fünf Stunden Schlaf zusammen. Oft kommen sie gar nicht aus den Kleidern, es lohnt nicht, sich für den Augenblick Schlaf auszuziehen!
    Und dazwischen, schnell, ehe sie in die endlose Nachtschicht laufen, trennen sie eine Seite aus dem Schulheft der Kinder. Auch er ist da, er ist immer da, er ist der »Ernährer« geblieben, für sie, die jetzt die Ernährerin ist. Er ist der Inbegriff der guten Friedenszeit geworden, da man Arbeit, aber auch Arbeitsende kannte, da man wußte, was Hunger war, aber auch sich satt essen konnte …
    »Lieber Max«, schreiben sie also auf die Schulheftseite, auf die dünnen blauen Linien, und sie bemühen sich, so gut und deutlich wie in der Schule zu schreiben. »Lieber Max«, schreiben sie. »Mir und den Kindern geht es noch gut, was ich auch von Dir hoffe. Wir haben diese Woche ein halbes Pfund Grieß auf Karten extra, und weil ich doch Schwerarbeiterzulage bekomme, reichen wir gut.« Dieses »gut« wird dreimal unterstrichen. »Du mußt Dir also den Zucker nicht absparen. Wir kommen gut hin.« Wieder drei Striche. »Es wäre schön, wennDu bald ganz heimkämst. Kannst Du nicht machen, daß der Krieg bald alle ist? Entschuldige, das sollte ein Witz sein, ich weiß schon, daß wir durchhalten müssen …«
    So oder ähnlich schrieben sie, Klagen lag ihnen nicht. Sie schrieben gehetzt zwischen den Arbeiten, zwischen zwei streitenden Kindern, im Ohr die ewige Bitte um Brot. Sie schrieben, wie sie arbeiteten, die Kinder versorgten, um Lebensmittel liefen: selbstverständlich, ohne Aufhebens. Sie schrieben,

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