Der eiserne Gustav
Tag mit Beschießungen und kleinen Kämpfen noch länger erschien. Aber er machte seinen Dienst wie sonst, sein Zug lag im Graben, es gab immer zu tun.
Nachts schlief er tief und traumlos. Über die bevorstehende Auseinandersetzung mit dem Vater machte er sich keine Gedanken mehr. Das alles lag unwahrscheinlich weit zurück. Seit er mit dem Leutnant von Ramin über seine Feigheit gesprochen hatte, seit nun auch ein fremder Mensch – nicht nur Tutti – darum wußte, schien diese Feigheit nicht mehr vorhanden – seltsamer Widersinn!
Dann war es soweit. Sein Kompanieführer schüttelte ihm noch die Hand. »Kommen Sie guter Stimmung wieder, Hackendahl«, sagte er. »Lassen Sie sich von denen im Hinterlande nicht anstecken. Es soll dort faul aussehen.«
»Jawohl, Herr Hauptmann.«
Ein paar Kameraden brachten ihn noch ein Stück, bis aus den Gräben. Er bekam Briefe, die er neben Grüßen und Paketen persönlich zu bestellen hatte.
»Mach’s gut, Hackendahl«, sagten auch sie. »Wer weiß, wie du uns wiederfindest. Wir sollen ja wieder Dunst kriegen.«
Er ging allein weiter, der Morgen dämmerte noch nicht. Die Straße war voll Munitionskolonnen, die von der Front zurückfuhren, von ausrückenden Gulaschkanonen, von Sanitätswagen.
Einmal fuhr ein leiser, großer Wagen an ihm vorüber: ein Stabsauto, unbestimmt sah er Gesichter, karmesinrote Spiegel auf untadeligen, seidig glänzenden Waffenröcken.
Später bog er von der großen Straße ab. Der Tag dämmerte langsam, er hatte noch Zeit. In den Fermen, die verstreut unter Bäumen lagen, regte sich hier und da Leben, in einem Stall brannte Licht. Er hörte die Kühe nach Futter brüllen, Stalleimer klapperten – gut!
Er ging, wie er seit zwei Jahren nicht mehr gegangen war: langsam, gemächlich, ungefährdet. Er sah die Wintersaat auf den Feldern an. Sie war smaragdgrün, sie leuchtete in der aufgehenden Sonne – es würde einen klaren Tag geben, heute. Einen bösen Tag für die im Schützengraben – Fliegerwetter, dachte er. Er war fröhlich und traurig – fröhlich, daß es noch Vieh gab und bestellte Saaten, nicht nur von Granaten zerwühlten Boden und Ratten. Und er war ein wenig schuldvoll traurig, daß er die Kameraden allein im Graben ließ.
Er hörte, schon ferne, den Geschützdonner beginnen, er wurde unruhig. Fermen und Wintersaat freuten ihn nicht mehr. Er fing an, schneller zu gehen.
Er sah auf die Uhr: Es war noch viel Zeit, bis sein Zug nach Lille fuhr.
Er ging noch schneller. Er zwang sich, bei einem Heckenrosenstrauch stehenzubleiben. Der Winter hatte den Strauch entblättert, aber noch hingen dicke, hellrote Hagebutten an den Zweigen. Sie glänzten regenfeucht in der Sonne. Ichhabe ja noch Zeit, sagte er sich ungeduldig. Ich kann mir in Ruhe ansehen, wie schön diese Hagebutten sind …
Plötzlich wurde ihm klar, daß er ein unsinniges Heimweh hatte, daß er sich nach Tutti sehnte, nach ihrem Gesicht, ihren sanften Taubenaugen. Er wußte nicht mehr, wie Gustäving aussah. Der war jetzt doppelt so alt wie damals, als er ins Feld gekommen war. Bei den Eltern sollte es große Veränderungen gegeben haben. Vater fuhr wieder selber Droschke. Er konnte sich seinen Vater nicht auf dem Kutschbock vorstellen – er hätte Vater gerne wiedergesehen!
Ja, plötzlich hatte er Heimweh, Heimweh nach all und jedem, nach Rabause und dem niedergebrochenen Schimmel, er sah seine Schnitzmesser vor sich.
Er hatte Heimweh, und jetzt, weit hinter der Front, bekam er Angst, daß ihm noch etwas geschehen könnte, ehe er nach Haus kam. Er sah auf die Uhr. Er hatte noch eine Stunde Zeit, bis sein Zug ging, und kaum noch eine Viertelstunde zu gehen.
Trotzdem fing er an zu laufen. Er lief immer schneller, er sah den Bahnhof, kein Zug war weit und breit zu sehen, aber er lief noch schneller. Wie die meisten hatte er oft Angst vor einem Hodenschuß gehabt, es dann lange überwunden – jetzt kam es wieder, sie sollten ihn nicht treffen, jetzt nicht, nur jetzt nicht, er fuhr in die Heimat!
Er wurde erst wieder ruhiger, als er im Zuge saß, der überfüllt war mit anderen Urlaubern, die wie er in die Heimat reisten, oder mit solchen, die für ein oder zwei Tage nach Lille fuhren. Die Heimaturlauber waren fast alle sehr still, um so lauter lärmten die Etappenfahrer. Sie empfahlen einander Bierlokale und Mädchen, sie rissen Zoten, sie waren entschlossen, in den paar Urlaubstunden so viel »wirkliches Leben« – nach dem Gespensterdasein im Graben – in sich zu
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