Der Eiserne König
Ankunft gestanden hatten. Unten toste der Kampf wie ein wütender Sturm. Hans lief eine zweite, finstere Treppe hinauf, die nach vielen Stufen in einen weitläufigen Raum mündete. Er blieb stehen, um zu verschnaufen, und sah sich um – da waren sie, die gewaltigen Winden, über die die Ketten von Zugbrücke und Fallgittern liefen. Dank Grete und den Frauen hatte er es doch noch geschafft! Er schob das Schwert in den Gürtel, wischte sich Schweiß von der Stirn und trat an die Winde für die Kette der Zugbrücke, deren Glieder groß wie Ochsenschädel waren.
Hans wollte gerade die Sicherungsbolzen lösen, als Tritte auf der Treppe hallten. Kurz darauf sprangen mehrere Krieger in den Raum. Trotz der Dunkelheit erkannte Hans den Wächter, gegen den er vor dem dritten Turm gekämpft hatte.
»Er ist mit den Weibern im Bunde!«, brüllte der Mann. »Los, erschlagt ihn!«
Die mit Schwert und Streitaxt bewaffneten Krieger kreisten Hans ein.
Der Heerbann lag schon eine ganze Weile gefechtsbereit vor Rottland, als plötzlich Lärm aufbrandete.
»Was mag da los sein?«, fragte Hilck von der Usse.
»Klingt wie ein Kampf, an dem mindestens hundert Gegner beteiligt sind«, erwiderte ein Ritter.
»Dann sind es auf keinen Fall Hans und die Mädchen«, sagte Sanne.
»Rätselhaft«, brummte Hilck. »Ob unser Plan gelingt? Wenn Hans die Zugbrücke nicht öffnet, müssen wir um sein Leben fürchten.« Er trat an den Abgrund und sah nach Rottland; die mächtigen Mauern schienen ihn zu verspotten, und der in den mondlosen Nachthimmel ragende Bergfried sprach einer Eroberung Hohn.
Der Knappe warf einen Stein in den Abgrund, um die Tiefe auszuloten. Nach einer Weile ertönte ein dumpfes Klackern, dann ein Platschen. Irgendwo schrie eine Eule, als hätte man sie aufgestört. Die Männer des Heerbanns wurden unruhig. Waffen klirrten, Stiefel scharrten, Geflüster erhob sich. Der aus der Grenzfeste dringende Gefechtslärm flaute nicht ab. Sanne meinte, das Gebrüll von Rindern zu hören. Hilck von der Usse stand am Abgrund, den Blick auf das so nahe und doch so ferne Rottland gerichtet.
»Wir
müssen
hinein«, sagte er. »Wir brauchen die Waffen.«
»Tja …«, murmelte Sanne ratlos.
Knappe und Ritter standen stumm und bedrückt da. Niemand hatte eine zündende Idee. Nach einer Weile trat Horn zu dem Gografen und sagte: »Ich könnte vielleicht helfen.«
»Zauberst du wieder etwas aus Hut oder Fellranzen?«, fragte Sanne.
»Der Hut ist futsch, und die Krieger sind hier nutzlos«, sagte Horn. »Aber ich habe noch etwas …« – er nestelte am Gürtel, über dem seine Wampe hing – »… das ich allerdings noch nie ausprobiert habe. Ich habe mich danach benannt. Eigentlich heiße ich Waldemar Friedensreich.« Er zwinkerte Sanne zu und nahm ein Horn vom Gürtel. »Ich habe es wie alles andere auch einer Schwarzdrossel im Greting abgeknöpft. Angeblich stürzen Festungswerke, Mauern, Städte und Dörfer, wenn man darauf bläst.«
Hilck von der Usse musterte das Horn. »Schwer zu glauben«, brummte er.
»Zauberwerk bringt Unglück«, rief ein Ritter. »Und ehrlos ist es obendrein.«
»Ich habe mich an die Ehrlosigkeit gewöhnt«, erwiderte der Gograf resigniert. »Und wenn Rottland über den Haufen fällt, kann uns das nur recht sein.«
»Waldemar Friedensreich«, sagte Sanne grinsend, »lass das Horn erschallen!«
Horn setzte das Wunderding an die Lippen und blies hinein. Ein kläglicher Ton perlte aus dem Schalltrichter. Im Abgrund polterten kleinere Steine in die Tiefe.
»Wahrlich eine mächtige Waffe«, spottete ein anderer Ritter.
»Er hat uns zwei Mal gerettet – mit Hut und Ranzen«, sagte Sanne. »Warum sollte das Horn nicht auch funktionieren?«
»Schafft jemanden her, der Ahnung von Tuten und Blasen hat«, befahl Hilck von der Usse.
Sein Knappe eilte zum Heerbann. Nach einer Weile kehrte er mit einem Vierschrat zurück, der angab, in einem der Weiler des Lohwalds Türmer gewesen zu sein. Er verneigte sich vor dem Gografen und nahm das Horn in Empfang.
»Beachtlicher Brustkasten«, flüsterte Horn Sanne ins Ohr. »Er könnte es schaffen.«
Der Türmer blies mit dicken Wangen in das Mundstück. Ein auf- und abschwellendes Quietschen erklang. Nichts tat sich.
»Streng dich an, Mann!«, schrie Hilck von der Usse.
Der Türmer blies noch einmal. Das Quietschen ging erst in ein Knarren und dann in einen dumpfen, langgezogenen Ton über, der nach kurzer Zeit abbrach. Der Mann setzte das Horn ab; er
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