Der Eiserne König
eine verwundete Person auf dem Rücken trug. Sanne wich zurück und duckte sich abwehrbereit.
»Ich bin es«, sagte der Mann und wischte sich Staub aus dem Gesicht.
»Hans«, rief Sanne glücklich, sprang auf ihn zu und umarmte ihn mit gezückten Sicheln.
»Hilf mir«, bat er. »Meine Schwester ist verwundet.«
»Deine Schwester?«, fragte Sanne verdutzt. »Hier?«
Sie legten Grete behutsam auf den Boden, wo sie die Augen aufschlug. »Sind das die Krieger der Gografen?«, fragte sie mit schwacher Stimme.
»Ja«, sagte Sanne. »Eure Qual hat ein Ende.«
Hilck von der Usse stand mit wachsendem Unmut auf dem Quader. Schließlich riss ihm der Geduldsfaden, und er befahl seinen Rittern, einzugreifen. Sie konnten die Kontrahenten rasch und ohne viel Federlesens trennen. Der Kampfgeist der Frauen, die gewütet hatten, als wären sie wahnsinnig, verflog schlagartig, und sie sanken erschöpft zwischen ihren toten und verwundeten Leidensgenossinnen zu Boden. Blaubarts Krieger waren so benommen, dass ihnen gar nicht bewusst wurde, wer sie entwaffnete und zusammentrieb. Sie hockten zwischen den Trümmern, den Kopf auf den Knien oder die Hände vor dem Gesicht, und rangen um Atem und Fassung, während die Krieger des Gografen Aberdutzende von Toten vom Schlachtfeld schleiften und sich um die Verwundeten kümmerten. Hilck von der Usse wies seine Ritter an, die Grenzfeste zu durchkämmen und die Waffen zu sichern.
Hans kniete neben Grete, die mit gebrochenem Blick zu ihm aufsah. Sie blutete aus mehreren Wunden, war geschwächt und dem Tode nah. »Gleich bin ich für immer frei«, flüsterte sie. »Dann wird mich nie wieder jemand quälen können.« Sie musste husten.
Ihr Bruder schwieg. Bilder aus der Vergangenheit gingen ihm durch den Kopf – ihre Eltern, der dunkle Wald, der Käfig, in dem er gehockt hatte, seine Schwester, die die Hexe kurz entschlossen in den Ofen gestoßen hatte. Mit der gleichen Entschlossenheit hatte sie für die Freiheit der eingesperrten Frauen gekämpft, und sie hatte gesiegt. Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Egal, was du getan hast oder was man dir angetan hat«, sagte er, »du bist und bleibst meine Schwester, Grete. Ich achte dich, und ich bin dir dankbar.«
Sie lächelte. Vielleicht aus Erleichterung über diese Worte, vielleicht, weil der Tod sie endlich zu sich rief. Sie bebte wie ein Blatt im Wind. Ihre Augen weiteten sich. Und schlossen sich für immer.
Hans blieb mit gesenktem Kopf neben ihr sitzen. Er ließ ihre Hand nicht los. Er nahm weder wahr, dass der Gograf die Waffen aus den Rüstkammern holen ließ, noch, dass sich die Frauen, die bis zum Umfallen gekämpft hatten, um seine tote Schwester versammelten, um ihr die letzte Ehre zu erweisen, und dass Sanne ihm über die Haare strich und sich dann auf die Suche nach Horn begab, der schon länger verschwunden war.
Sie kletterte über die Trümmer der Kerkertürme. »Horn?«, rief sie. »Wo bist du?« Die Morgendämmerung tauchte den Hof der Grenzfeste in ein stilles Licht, als sie ihn endlich fand. Er stand vor der Nordseite des mächtigen Bergfrieds, den Kopf in den Nacken gelegt. Als Sanne seinem Blick folgte, sah sie oben im Turm ein Spitzbogenfenster, aus dem eine Frau sah. Da fiel plötzlich etwas in die Tiefe – eine Strickleiter, die, wie Sanne zu ihrer Verblüffung feststellte, aus weißblonden Haaren geflochten war. »Horn!«, sagte sie. »Was tust du hier? Wer ist die Frau?«
»Sie ist Blaubarts letzte Gefangene«, antwortete er. »Sie war sein Weib, bevor seine Grausamkeit erwachte. Er hat sie aus Eifersucht einmauern lassen. Er wollte nicht, dass ein anderer Mann sie begehrt. Ich muss sie retten.« Er griff nach der Strickleiter. »Sie heißt Rapunzel«, fügte er noch hinzu, bevor er nach oben zu klettern begann.
»Du bist verrückt!«, rief Sanne. »Komm zurück. Du bist zu … zu füllig für die Strickleiter. Du wirst abstürzen.«
»Ich muss zu ihr!«, schrie Horn, der Sprosse um Sprosse der gefährlich schwankenden Leiter erklomm. »Ich liebe sie!«
»So ein Blödsinn«, schrie Sanne verzweifelt. »Von hier unten kannst du nicht einmal ihr Gesicht sehen.«
»Ich kenne sie aus meinen Träumen!«, rief Horn. »Ich habe mein ganzes Leben von ihr geträumt. Ich werde …« – er stieg schnaufend höher und höher – »… sie heiraten. Und Kinder mit ihr haben. Wir werden bis zu unserem Tod glücklich und zufrieden leben. Das weiß ich genau.«
»Horn!«, brüllte Sanne. Das Echo ihres Rufes
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