Der Eiserne König
aber die Grenzfeste war tatsächlich uneinnehmbar, und nun hatte er auch noch seine Schwester am Hals. Der Plan ging nicht auf, ja mehr noch: Die Sache lief aus dem Ruder. Er bückte sich nach Eisenhans’ Schwert und trat in die Nacht. Das Vieh hatte sich beruhigt, und bis auf das gelegentliche Gejohle und Gelächter der Männer und Mädchen im Bergfried herrschte Stille.
Hans überlegte, was zu tun war, als ein erstickter Schrei über den Hof der Grenzfeste hallte. Vor einem der Türme bewegte sich etwas, und er lief sofort hin. Unterwegs kam er an einem Blutgerüst vorbei, das er bei der Ankunft nicht gesehen hatte, und wandte den Blick mit Grausen ab. Vor dem Turm lag ein erschlagener Wächter, die Tür stand offen. Hans wich fluchend zurück und sah wieder bleiche Gesichter, die sich gegen vergitterte Fensterschlitze drückten. Ein Winseln ertönte, ein Flehen, ein Klagen – das unvermittelt in Jubel umschlug. Im Turm quietschten Türen. Schritte hallten. Dann trat eine abgemagerte, zerlumpte Frau unbestimmbaren Alters ins Freie. Beim Anblick von Hans schrie sie panisch auf und hob abwehrend die Arme. Ihre Handflächen waren so narbig, als hätte sie ihr Leben lang am Spinnrad gesessen. Hinter ihr drängten immer mehr Frauen aus dem Turm, und schließlich erschien Grete.
»Tut ihm nichts!«, rief sie. »Er gehört zu mir.«
Die Frauen eilten wie Gespenster über den dunklen Hof, um in Scheunen und Ställen nach Waffen zu suchen. Grete rannte zum nächsten Turm. Sie überwältigte den Wächter, der vor der Tür eingenickt war, und öffnete auch hier alle Zellen.
»Was tust du?«, fragte Hans verzweifelt, während die Frauen an ihm vorbeiströmten. »Ich soll Zugbrücke und Fallgitter öffnen. Der Heerbann der Gografen wird euch befreien.«
Grete sah ihn an. Wieder lag Wahnsinn in ihrem Blick. »Wir haben genug gelitten«, flüsterte sie. »Du ahnst nicht, was für ein Scheusal Blaubart ist. Wir haben in Angst und Schrecken gelebt. Wir wollen frei sein. Oder tot. Wir werden es diesen Dreckskerlen heimzahlen.«
Hans ballte in seiner Ohnmacht die Fäuste und knirschte mit den Zähnen, während seine Schwester zum dritten Turm lief, der sich pechschwarz vom Nachthimmel abhob. Dieses Mal geriet sie an einen geistesgegenwärtigen Wächter. Hans sprang ihr bei, als er den Kampflärm hörte, und schlug den Mann mit wilden Hieben in die Flucht. Dann brach er das Türschloss auf, und Grete rannte in den Turm, um die gefangenen Frauen zu befreien.
Doch Blaubarts Krieger waren alarmiert. Rufe erschallten. Ringsumher wurden Fackeln entfacht. Die Tür des Bergfrieds flog auf, und die Männer, die sich mit den Mädchen vergnügt hatten, eilten über die Holztreppe auf den Hof. Die ganze Besatzung Rottlands war auf den Beinen. Im Fackelschein erblickte Hans die mageren, verdreckten, zerlumpten Frauen und Mädchen. Sie hatten sich mit allem bewaffnet, was sie hatten finden können – Forken, Beile, Hacken und Stangen, sogar einige Schwerter und Speere –, ihre Augen glühten wie Kohlen, und in ihrer Todesverachtung und Rachsucht, ihrem Blutdurst und ihrem Mut der Verzweiflung wirkten sie wie Furien. Dann drängte das Vieh brüllend aus dem Stall und stürmte auf die Krieger zu. Frauen und Mädchen heulten wie Todesfeen und gingen zum Angriff über.
Hans stand wie gelähmt vor dem Turm und sah den Frauen zu, die wie eine Welle gegen die Krieger anbrandeten. Diese waren zwar kampferprobt und gut gerüstet, aber erstens hatte das Vieh ihre Reihen durcheinandergewürfelt, und zweitens erfüllte sie der Anblick der hasserfüllten Gefangenen, die zu Hunderten auf sie losgingen, mit Angst und Entsetzen. Auf dem finsteren, nur stellenweise von Fackeln erhellten Hof der Grenzfeste entbrannte ein blutiges Gemetzel. Manche Frauen stürzten sich absichtlich in ein Schwert, um ihren Leidensgenossinnen die Gelegenheit zu geben, den Krieger zu erschlagen. Schon bald lagen zahlreiche Tote am Boden, Schweine und Rinder irrten durch das Gewirr der ineinander verkeilten Frauen und Männer, und die Luft war von Wutgebrüll und Schmerzensschreien erfüllt.
Hans, der Grete aus den Augen verloren hatte, nutzte die Gunst des Augenblicks und huschte längs der Festungsmauer zur Wachstube. Er sprang kampfbereit hinein. Auf dem Tisch standen noch Fleisch, Brot und Bier, aber die Krieger waren ihren Kameraden zu Hilfe geeilt. Er hetzte eine Wendeltreppe hinauf und gelangte in ein Gelass mit den Schießscharten, an denen die Wächter bei ihrer
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