Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Eiserne Rat

Der Eiserne Rat

Titel: Der Eiserne Rat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
Vom Netzwerk:
nach New Crobuzon. Das Bewusstsein, dass die Zeit und der Wandel auch sie einholen würden, war wie ein Stachel in seinem Fleisch.
    Ich werde dich nicht fragen. Ich frage dich nicht, weshalb du getan hast, was du getan hast. Ich habe dazu nicht die Zeit. Doch auch unaufgefordert begann Judah zu sprechen.
    »Man konnte nichts tun. Man konnte nichts tun, um das Verhängnis abzuwenden. Im Buch der Geschichte war eine neue Seite aufgeschlagen. Es war der falsche Augenblick.« Er war sehr ruhig. Er sprach nicht zu Cutter, sondern zur ganzen Welt. Wie ein Fieberkranker. Noch immer konnte er sich kaum auf den Beinen halten, aber er sprach mit fester Stimme. »Die Geschichte hatte sie überholt, und das war … Ich wusste es nicht! Ich war mir nie sicher, dass ich es tun konnte. So schwer, all das Planen, das Versuchen zu verstehen, das Studieren, und es war – so …« Er schüttelte die Fäuste neben seinem Kopf. »… so kräftezehrend …«
    »Schon gut, Judah, schon gut.« Cutter klopfte ihm auf die Schulter und ließ seine Hand liegen. Umarmte Judah. Merkte, wie ihm die Tränen in den Augen brannten, kniff die Lider zu, drängte sie zurück. Was sind wir für ein Paar, dachte er und musste wahrhaftig lachen, und Judah lachte auch.
    Dort liegt New Crobuzon. Cutter bestimmte die Richtung.
    »Wohin sollen wir gehen, Judah?«
    »Bring mich nach Hause«, sagte Judah, und wieder wurden Cutter die Augen feucht.
    »Ja«, sagte er behutsam. »Ich bringe dich nach Hause.«
    Ihr kleiner Selbstbetrug, dass sie es schaffen könnten. In weitem Bogen zu den Erhebungen hinter dem Verschiebebahnhof, wo sie an der Nordseite des TRT-Geländes entlang, in östlicher Richtung, möglicherweise unbemerkt in die Elendsviertel am Stadtrand gelangen konnten. Nach Chimer, oder weiter nach oben, durch die Vorberge zum Tar und den Flussschiffern und kleinen Händlern, die sich vielleicht überreden ließen, sie mitzunehmen, dann auf dem Wasser an Raven’s Gate vorbei, an Creekside und den Ruinen des Kheprighettos, unter der Hochbahn hindurch, nach Smog Bend, in die Innenstadt von New Crobuzon. Cutter schlug die nördliche Richtung ein, als wäre genau das ihr Plan.
    Was war das, Judah? Was war das, was hast du getan? Cutter erinnerte sich an Gespräche mit Judah über unkörperliche Golems, die Stiltspear und ihre arkane Golemetrie. Ich habe nicht geahnt, dass du so etwas tun kannst.
    Irgendwann waren sie nicht mehr ganz allein, eine Karawane kam ihnen entgegen. »Ihr geht in die falsche Richtung, Freunde«, rief einer ihnen zu. Cutter und Judah gingen stumm weiter. Die Wagenräder mahlten und gruben Furchen in die Erde und entfernten sich. Cutter schaute zum Himmel, sah Vögel. Noch ein bisschen länger. Noch ein paar Tage. Er hätte nicht sagen können, an wen oder was er seine Bitte richtete. Judah wurde schwächer, und Cutter stützte ihn.
    »Wie du aussiehst«, sagte er. »Wie du aussiehst.« Er wischte Judah Schmutz aus dem Gesicht, strich ihn an seine eigenen Kleider. »Wie du aussiehst.«
    Eine zweite kleine Welle von Flüchtlingen. Diesmal in ethnischer Vielfalt. Menschen mit Handwagen, ein nach Wasser lechzender Vodyanoi. Eine fette Kaktusfrau, die mit einer mächtigen Keule bewaffnet war und diese drohend gegen Cutter und Judah schüttelte, aber wieder sinken ließ, nachdem sie die beiden genauer betrachtet hatte. Da waren zwei Khepri, die schmächtigen Frauenkörper in lange Tücher gehüllt, die ihnen nur kleine Schritte ermöglichten; sie unterhielten sich vermittels der Zeichensprache ihrer schillernden Kopfkäfer, die mit Beinen und Mandibeln gestikulierten und außerdem Düfte mit eigener olfaktorischer Botschaft versprühten. Ihnen folgte, quasi als Ausrufezeichen dieser gemischten Gruppe, ein Konstrukt.
    Cutter glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Sogar Judah schaute hin, durch die Schleier seiner Erschöpfung. Es kam ihnen watschelnd in dem Karrengleis entgegen.
    Gliedmaßen, Rumpf und Kopf in groben Zügen dem Aufbau der menschlichen Gestalt entsprechend, der Körper ein Metallzylinder, der Kopf aus Zinn und Glas. Ein Arm war noch das Original, der andere ein später angesetztes Ersatzteil aus gebürstetem, hellerem Metall. Aus einem Ventil, das aussah wie ein Bündel Zigarren, atmete es Rauch. Mit nichtmenschlicher Präzision hob es seine röhrenförmigen Beine und setzte sie nieder. Über der Schulter – oder was man bei einem Menschen Schulter genannt hätte – trug es einen langen Stab mit einem Bündel daran.
    Eins

Weitere Kostenlose Bücher