Der eiserne Thron
seinen Verletzungen gesagt. Er würde nie erfahren,
wieviel seine Bitte sie kosten würde; was sie dafür hatte versprechen müssen. Er durfte es niemals erfahren. Finlay würde
sein Leben wegwerfen, um ihren Vater zu töten, und das durfte sie nicht erlauben. Sie brauchte ihn zu sehr. Aber sie fragte
sich, ob ihre Gefühle für ihn je wieder so sein würden wie
früher.
»Was denkst du?« fragte sie leise.
»Meine Familie«, erwiderte er ohne aufzublicken. »Sie sind
alle tot. Ich vermisse sie. Mein Vater starb, und ich hatte nie
eine Gelegenheit, ihm mein wahres Ich zu zeigen. Er hat nie
gewußt, daß ich ein guter Kämpfer bin, genauso wie er selbst.
William und Gerold sind auch tot. Sie waren da, mein ganzes
Leben, haben sich um mich gekümmert und halfen mir, wenn
ich sie brauchte. Jetzt sind sie alle nicht mehr, und nur ich bin
übrig. Und ich bin nicht einmal mehr ein Feldglöck. Ich weiß
nicht, was ich bin.«
»Du bist der Mann, den ich liebe«, sagte Evangeline. »Der
Mann, der mich liebt. Ich bin jetzt dein Leben. Oder reicht dir
das nicht?«
Endlich hob er den Blick. »Ich habe immer gesagt, daß du
alles bist, wonach ich mich wirklich sehne. Scheint, daß ich
zuerst alles andere verlieren mußte, um herauszufinden, wie
sehr das stimmt. Ich liebe dich, Evie; daran darfst du niemals
zweifeln. Aber ich habe auch meine Familie geliebt, auf eine
andere Weise, und ein Teil von mir ist mit ihnen gestorben.
Mein Leben ist aus dem Ruder gelaufen, und ich habe keine
Ahnung, wie es weitergehen soll.«
»Wir werden weiterleben, so oder so. Du wirst eine neue
Aufgabe im Untergrund finden. Mir ging es genauso. Und
jetzt laß uns von hier weggehen. Ich denke, es ist am besten,
wenn wir verschwunden sind, bevor dein Vetter mit seiner
kleinen Armee eintrifft.«
Finlay runzelte die Stirn. »Du meinst, wir sollen Adrienne
einfach in der Maschine zurücklassen? Wird sich dein Vater
denn nicht fragen, was die Maschine hier zu suchen hat?«
»Ich werde mir schon eine plausible Erklärung für ihn einfallen lassen. Laß uns jetzt endlich gehen, Finlay. Wir haben
alles für deine Frau getan, was wir tun konnten.«
Finlay nickte zögernd und erhob sich. »Ja, du hast sicher
recht; das sehe ich ein. Du gehst voraus, Evie, und ich folge
dir.«
Evangeline lächelte. »Genau so stelle ich mir einen Mann
vor.« Sie machte einen Schritt an ihrer Spiegelkommode vorbei auf die Wand zu. Ein Licht schaltete sich ein und enthüllte
einen getarnten Aufzug. »Das war ursprünglich ein Fluchtweg
für den Fall eines Feuers. Ein paar befreundete Kyberratten
haben ihn aus den Dateien gelöscht, und nur ich weiß noch
von seiner Existenz. Der Lift bringt uns ins zweite Kellergeschoß. Dort geht nie jemand hin. Deshalb hat auch nie jemand
den versteckten Tunnel gefunden, der von dort in die Katakomben unter der Stadt führt. Du bist nicht der einzige mit
Geheimnissen, Finlay. Der Tunnel ist ein sicherer Weg zum
Untergrund, und ich habe ihn schon oft benutzt. Und jetzt
komm endlich mit mir, Finlay Feldglöck. Oder möchtest du
lieber bei deiner Frau bleiben?«
Finlay setzte sich in Bewegung und trat zu Evangeline. Er
wollte seine Arme ausstrecken und sie drücken, aber als er die
Kälte in ihren Augen und ihr starres Gesicht erblickte, hielt er
in der Bewegung inne. Seine Arme fielen kraftlos an den Seiten herab. »Es tut mir leid, Evangeline. Ich weiß, was in dir
vorgeht, was das für dich und uns beide bedeutet. Doch ich
konnte sie einfach nicht liegen und sterben lassen. Es ist eine
Frage der Familienehre, selbst wenn die Familie nicht länger
existiert. Ich habe Adrienne nie geliebt, aber ich bewunderte
sie. Sie hatte nie Angst, stark zu sein und zu sagen, was sie
fühlte, ganz egal, wie die Konsequenzen aussehen mochten.
Auf ihre Art und Weise war sie immer ehrenhaft.«
»Und du stellst deine Familienehre über uns und unsere gemeinsame Zukunft?«
»Was ist denn mit deiner eigenen Familienehre? Wir hätten
genausogut einfach verschwinden können, und Robert und
seine Leute hätten sich den Weg in euren Turm freigekämpft,
aber das wolltest du nicht zulassen. Du hast lieber einen Handel mit deinem verachteten Vater abgeschlossen, als zuzulassen, daß bewaffnete Männer aus einem anderen Clan auf das
Haus deiner Familie losgehen. Es wäre falsch gewesen, und
du wußtest das. Bitte, Liebling, laß uns nicht länger darüber
streiten. Laß uns einfach gehen. Es gibt nichts mehr, das uns
hier noch länger hält.«
Evangeline nickte schweigend,
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