Der eiserne Thron
Adrienne sehen wollen. Die Wachen
deines Vaters werden versuchen, ihn aufzuhalten, und ich
glaube nicht, daß er in der Stimmung ist, ›Nein‹ als Antwort
gelten zu lassen. Es wird zum Kampf kommen, und es hat
genug Blutvergießen gegeben. Wie können wir ihn hereinbekommen? Kannst du die Befehle deines Vaters außer Kraft
setzen? Nehmen seine Leute Befehle von dir entgegen?«
»Nein. Papa vertraut mir nicht, wenn es um wichtige Dinge
geht.«
»Dann wirst du mit ihm reden müssen. Ruf ihn an und bitte
ihn um Hilfe.«
Evangeline sah Finlay fest in die Augen. »Du weißt nicht,
was du da verlangst.«
»Ich bitte die Frau um Hilfe, die sagt, daß sie mich liebt. Ich
weiß, daß du und dein Vater nicht miteinander auskommen,
aber … Sieh mal, es ist nicht wegen Adrienne. Es ist wegen
mir.«
»Also gut«, erwiderte Evangeline zögernd. »Ich tue es für
dich.«
Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und bereitete sich
innerlich auf die Begegnung vor. Sie würde stark sein müssen,
wie schon so oft. Evangeline ging zu ihrer Schminkkommode
und setzte sich, wobei sie ganz automatisch ihr Nachthemd
zurechtrückte. Sie mußte hübsch sein für Papa. Dann aktivierte sie den Kommlink und wählte die Privatnummer ihres Vaters. Der Spiegel ihrer Kommode flackerte und verwandelte
sich in einen Bildschirm. Evangeline veränderte die Brennweite, so daß nur ihr Gesicht und ihre Schultern zu sehen waren. Der Schirm flackerte ein weiteres Mal, und dann saß sie
ihrem Vater gegenüber. Gregor Shreck räkelte sich in einem
bequemen Sessel, und das lange Nachthemd, mit dem er bekleidet war, trug nichts dazu bei, seine Leibesfülle zu verbergen. Er runzelte die Stirn, als er erkannte, wer ihn da angerufen hatte, und seine tief in den Höhlen liegenden Augen ver
schwanden fast unter den Fettschichten in seinem Gesicht.
»Evangeline, meine Liebe! Ich habe dir doch gesagt, daß ich
bald kommen werde. Warum denn so ungeduldig?«
Seine Stimme klang genauso fett und widerlich, wie er aussah, aber sie ließ sich ihren Abscheu nicht anmerken. »Ich
brauche deine Hilfe, Papa. Adrienne Feldglöck ist zu mir in
meine Wohnung gekommen und hat mich um Hilfe gebeten.
Sie ist die einzige Überlebende eines Angriffs der Wolfs auf
ihre Familie. Sie ist verletzt und verzweifelt. Ich habe ihr gestattet, einen ihrer entfernteren Verwandten anzurufen und um
Hilfe zu bitten, und er ist mit einigen Freunden unterwegs
nach hier, um sie zu schützen. Du mußte den Wachen Bescheid geben, daß sie ihn hereinlassen.«
Der Shreck hob eine Augenbraue. »Ich wußte gar nicht, daß
du mit Adrienne Feldglöck befreundet bist?«
»Wir sind keine engen Freundinnen. Sie ist schließlich eine
Feldglöck, oder? Aber ich glaube, sie wußte nicht, wo sie
sonst hingehen sollte. Außerdem mochte ich die Wolfs noch
nie so recht. Sie waren immer sehr unhöflich dir gegenüber.«
»Ja, das waren sie, meine Liebe. Das waren sie wirklich. Ich
weiß trotzdem nicht so recht, Schätzchen. Du verlangst da
eine ganze Menge. Es ist niemals gut, sich in eine Vendetta
einzumischen, und außerdem scheinen die Wolfs zu gewinnen. Wenn die Feldglöcks erst am Boden liegen, sind die
Wolfs in einer sehr mächtigen Position, und nur ein Dumm
kopf macht sich überflüssige Feinde.«
»Ich bitte dich um einen besonderen Gefallen, Papa.«
» Wirklich , mein kleiner Liebling?« Der Shreck beugte sich
mit glitzernden Augen in seinem Sessel vor. »Und wie dankbar wirst du sein?«
»Ich werde die besonderen Sachen tragen, die dir so gefallen, und wir können all die Dinge tun, die du so magst. Ich
werde deine liebende, gehorsame Tochter sein …«
Gregor Shreck lächelte. »Natürlich wirst du das, mein Liebling. Also gut, ich werde anordnen, daß man die Feldglöcks
hineinläßt. Aber dafür wirst du schon sehr nett sein müssen,
Evangeline.«
»Ja, Papa. Ich weiß.«
Sie schaltete den Kommlink ab, und ihr Vater wurde gegen
ihr eigenes Bild im Spiegel ausgetauscht. Evangeline betrachtete das ernste, entschlossene Gesicht eine Weile und erkannte
die Person dahinter nicht wieder. Das war nicht sie, jedenfalls
nicht ihr wirkliches Ich. Andererseits – sie hatte schon so viele Dinge getan, die nicht ihrem wirklichen Ich entsprachen.
Sie wandte sich ab und blickte leidenschaftslos zu Finlay. Er
saß auf der Bettkante und starrte, tief in Gedanken versunken,
auf seine verschränkten Hände. Er war über und über mit Blut
verschmiert, ein Teil davon sein eigenes, aber er hatte kein
Wort von
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