Der eiskalte Himmel - Roman
Mondgesicht. Doch als Mrs. Simms die Kanne anhebt, um mir nachzuschenken, fällt mein Blick auf ihre sonnengebräunte Hand. An ihrem Mittelfinger trägt sie übereinander gesteckt die beiden Eheringe, und ihre Haut ist voller Runzeln, voll der tiefen seltsamen Falten, wie sie am Ende auch die ausgemergelten Beine von Tom Crean hatten, von denen ich soeben erzählt habe.
»Sørlle«, sage ich mit der Tasse am Mund. »Kapitän Sørlle.«
»Unaussprechliche Namen haben sie ja, diese Norweger.«
Ich nicke, und Mrs. Simms, vom Sportunterricht abgesehen meine Lehrerin in sämtlichen Fächern von der ersten bis zur sechsten Klasse, nimmt es mit dem vertrauten Zwinkern zur Kenntnis.
»Einen letzten Keks, Merce, den musst du essen, ich bestehe darauf. Sieh dich an: Wie lange bist du jetzt zurück aus diesem furchtbaren Nirgendwo, wo es bloà Norweger und Russen gibt?«
»Fast drei Monate, Madam?«
»Und noch immer hast du kaum was auf den Rippen. Du bist so dürr wie der Pfahl einer Gaslaterne! Mr. Simms hätte das nicht geduldet. Er hätte auÃerdem darauf bestanden, dass du zum Abendbrot bleibst. Und er hätte deiner Mutter ins Gewissen geredet, dass sie ihrem Sohn, solange er ein Strich in der Landschaft ist, die doppelte Portion verabreicht, täglich, und das mindestens acht Wochen lang. Iss, tu mir die Liebe, Junge. Diesen Keks. Und noch einen, hier.«
Aus dem Birnengarten weht die Oktoberbrise den Duft der im Gras vergammelnden Früchte herüber. Enten schnattern jenseits der Böschung zum Ebbw. Keinen Steinwurf entfernt vom Haus strömt das Flüsschen vorbei, ehe es sich unter der Ziegelbrücke des alten Pillgwenllier Heerwegs dünnmacht und verschwindet.
YELCHO . Der Name geistert mir schon seit Tagen im Kopf herum. Es ist der Name des kleinen chilenischen und, wie überall zu lesen war, alles andere als eistauglichen Schleppers, mit dem es Shackleton nach viermonatigen Fehlschlägen gelungen ist, bis zur Elefanten-Insel vorzustoÃen. YELCHO , den Namen hin und her wälzen zu müssen, ohne ein Bild mit ihm verbinden zu können, macht mich nervös. Ich weiÃ, dass es nicht stimmt und dass ich halluziniere, aber zusammen mit dem Rauschen und Plätschern des Flusses klingt das Gekecker aus dem Ulmengeäst wie ein mal leises, mal lautes Jellko.
»Jellko, jellko!«
Während Mrs. Simms Anekdoten von mir und meinen einstigen Mitschülern erzählt, denke ich an die Meldung, die mein Vater im South Wales Echo entdeckte, dass nämlich Shackletons Rückkehr nach London unmittelbar bevorstehe und ⦠lieber Himmel, was quält mich meine prallvolle Blase, so sehr, dass es wehtut, als ich in den Haselnusskeks beiÃe.
Das Geräusch meiner Zähne klingt wie das Keckern der Elster.
»Mmh. Sie fragten nach Kapitän Sørlle, Madam.«
»Ja, richtig: Warum hat der Schwager von Amundsen, dieser Kapitän Sourly, geweint? Hast du eine Erklärung dafür? Nach Freudentränen klang mir das nicht.«
»Man hielt uns für tot«, sage ich gepresst, bedaure den Satz aber sogleich: Im vergangenen November, etwa zur Zeit, als die ENDURANCE sank, ist der alte Mr. Simms gestorben, vor mir die Witwe unseres Kontormeisters trägt immer noch Trauerschwarz.
In ihre grünen Augen hinein beeile ich mich also anzufügen: »Aber uns am Leben zu sehen, das allein war es nicht. Ich glaube, Kapitän Sørlle ist schlagartig klar geworden, dass wir drei keine Vorstellung hatten, wie sich die Welt, aus der wir herausgefallen waren, verändert hatte.«
»Du meinst, wie verheerend der Krieg geworden war.«
»Wir wussten nicht einmal, dass noch immer Krieg war. âºWann war der Krieg vorbei?â¹, fragte Shackleton, als er sah, dass Sørlle weinte, und der Kapitän sagte es uns: âºDer Krieg ist nicht vorbei. Millionen sind auf den Schlachtfeldern in Europa gefallen, und noch immer sterben dort täglich zehntausende.â¹ Die Walfänger zeigten uns alte Zeitungen und übersetzten sie uns. So erfuhren wir von der Versenkung der LUSITANIA , von Giftgas, Flammenwerfern und dem Gallipoli-Feldzug. Wir konnten es nicht glauben. Am Abend nach unserer Ankunft in Stromness kam ein Blizzard, wir saÃen in den Baracken fest, aÃen, so viel wir konnten, badeten, wurden rasiert und mussten immer wieder erzählen, was wir erlebt hatten. Aber sobald wir allein
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