Der eiskalte Himmel - Roman
anscheinend seit geraumer Zeit verweigert habe. Es sind unsere letzten drei Zwiebacke, die wir in der Nische essen, und obwohl uns damit kein Proviant verbleibt, vertilgen wir auch die übrigen beiden Schlittenrationen. Aneinander gepresst, jeder einen Arm um den Nebenmann gelegt, die schlürfenden und kauenden Gesichter so dicht zusammengerückt wie nur möglich, hocken wir mit dem Rücken zur Kälte des heraufdämmernden Morgens in der Nische und warten, dass uns die Wärme der Kalorien neu durchströmt und der Mut zurückkehrt und die Wirklichkeit den Schrecken verliert.
»Es kann nicht mehr weit sein«, sagt Shackleton. »Dieser Kamm noch, dann geht es bergab bis zur Küste, ich spüre es. Ich verspreche euch, in spätestens sechs Stunden sehen wir die Station. Wir dürfen nur nicht nachlassen jetzt! Merce, geht es Ihnen schon besser?«
»Etwas besser, Sir.«
»Sie machen das ganz hervorragend. Jeder hat seinen toten Punkt. Wichtig ist, dass Sie stets Ihre Grenzen beachten und sich nichts Unmögliches abverlangen. Ich brauche Sie. Haben Sie nicht Lust, uns eine kleine Anekdote aus unseren verloren gegangenen Büchern zu erzählen, die uns aufmuntert oder wenigstens zu denken gibt?«
Was mir einfällt, ist bloà ein Bild, ein Bild von Zwiebacken im Schnee, und gerade weil es untrennbar mit Scotts Unglück verbunden ist, ist es ein Bild von Ausgelassenheit und Freude, weshalb es mir das richtige scheint, auch wenn ich damit vielleicht Crean in seiner unverwundenen Liebe zu Kapitän Scott verletze.
Ich erzähle von Amundsen. Während Scott in seinem Zelt verhungerte, reiste Roald Amundsen so schnell zum Pol und wieder zurück und sparte dabei so viel an Proviant, dass er mit seinen Männern eine Zwiebackschlacht auf dem Eis veranstaltete. Jeder der Polfahrer erhielt eine Kiste Zwieback als Munition. Und am Ende spannten die Norweger die Hunde von den Schlitten und lieÃen sie das Zwiebackschlachtfeld fressen.
Shackleton und Crean schweigen, doch von beiden Seiten drückt mich ein Arm. Wir haben aufgegessen, die Becher sind leer. Shackleton holt den Chronometer hervor, es ist Viertel nach sechs. Er weist Crean und mich an, eine halbe Stunde zu schlafen, bevor wir zum Kamm hinaufsteigen wollen. Crean lehnt sich an den Felsen, er schlieÃt mich in den Arm, und im nächsten Moment weckt uns Shackleton.
Ich reibe mir das Gesicht mit Schnee ab.
Wir lassen den Primuskocher in der Nische stehen, seilen uns an und beginnen, Stufen in den Hang zu treten. Der halbstündige Schlaf hat mich mehr erfrischt, als ich erwartet habe, der Aufstieg zum Kamm fällt mir vergleichsweise leicht, und einige Male helfe ich sogar dem Sir, Tritt zu fassen. Shackleton wirkt nun völlig erschöpft, er keucht und weicht meinem Blick aus. Crean geht voran, ich höre ihn wieder summen, in der Nähe und der Ferne keine Seele, keine Sterne. Und so haben wir die hellblau im Morgenlicht über uns liegende Kammlinie beinahe erreicht, als wir ein Geräusch hören. Es klingt wie ein weit entfernter Pfiff, jedoch nicht wie der Schrei eines Sturmvogels oder Skuas. Wir bleiben stehen und sehen einander an.
Von oben fragt Crean hell und klar: »Wie spät ist es?«
Shackleton hat Mühe, sein Keuchen zu unterdrücken. Als er zu Atem gekommen ist, holt er den Chronometer hervor. »Genau halb sieben.«
Wie könne es halb sieben sein, wollen Crean und ich wissen, wenn wir seit Viertel nach sechs eine halbe Stunde geschlafen und die Hälfte eines Schneehangs bestiegen haben?
Sir Ernest, noch immer keuchend, erklärt es uns: »Ihr seid beide ausgeruht, Tom, oder nicht? Ich habe euch nach fünf Minuten geweckt, weil ich sonst selber eingeschlafen wäre. Es ist halb sieben.«
»Um halb sieben«, sagt Crean, »weckt die Sirene die Männer von der Walfangstation.«
Und Shackleton: »Sie muss es sein, was wir gehört haben.«
»Wenn sie es war«, sagt Crean, »dann hören wir sie in einer halben Stunde noch einmal. Um sieben ruft sie die Männer zur Arbeit.«
Und wieder Shackleton: »Genau so ist es. Wir brauchen nur zu warten. Und was können wir besser als das, hm? Lasst uns über den Kamm sehen.«
Als die Stromnesser Dampfpfeife zum zweiten Mal ertönt, stehen wir auf dem sacht abfallenden Hang, über den wir seit einer halben Stunde ins Tal gestiegen sind, und umarmen einander.
»Es ist zu
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