Der eiskalte Himmel - Roman
ganz mit Sägemehl bedeckt. An den Wänden hängen Walkiefer, Harpunen und Fotos des Königs von Norwegen, der an einer Harpunenkanone posiert. Tiefes Brummen, dann ein Knall und lang anhaltendes Sirren ⦠auch einige der Geräusche aus dem Traum höre ich auf Südgeorgien wieder. Der plötzliche Lärm, der bedrohlich nah klingt und einem durch Mark und Bein geht, stammt von einem Gletscher, von dem seit Tagen Eis abbricht und in die See sinkt. Jeder Knall bedeutet einen neuen Eisberg. Je lauter der Knall, umso gröÃer der Berg.
»Keine Bange!«, lacht mir Fridtjof Jacobsen ins Ohr und haut mir von hinten seine Pranken auf die Schultern. Nein, er ist nicht Amundsens Schwager. »So hört es sich an, wenn ein Gletscher kalbt! Und das â«, wir hören wieder das langgezogene Sirren, es klingt wie ein aus groÃer Höhe abschmierender Doppeldecker, eine Sopwith Camel, »das jetzt ist die Lawine, die den Nordenskjöld-Gletscher herunterkommt, um den neuen Eisberg zu verabschieden.«
Der piekfein zurechtgemachte Kapitän Jacobsen klatscht einmal sachte auf meine Ohren und gibt mir einen Kuss auf den Hinterkopf. Nein, Amundsens Schwager heiÃt Sørlle, Thoralf Sørlle, und der ist Leiter der Stromness-Walfangstation fünfundzwanzig Kilometer weiter nördlich.
Das beständige Brummen hat nichts mit kalbenden Gletschern oder in den Fjord stürzenden Lawinen zu tun; es stammt von dem Generator, der Grytviken mit Elektrizität versorgt. Sogar die Schweine- und Hühnerställe, sagt man uns, sind beleuchtet. Und tatsächlich, als wir ins Freie treten, weist uns ein Band gelb und rot leuchtender Girlanden den Weg durch die Dunkelheit zum Hafen. Das Generatorenhäuschen stand ursprünglich in Strømmen, dem Dorf in Norwegen, aus dem die meisten von Jacobsens Männer stammen. Auch die Strømmener Kirche wurde in Teile zerlegt, hergeschafft und hier wieder aufgebaut. Derzeit ist sie verwaist. Pastor Gunvald weilt auf den Falkland-Inseln, wird aber rechtzeitig zurück sein, um vor unserem Aufbruch ins Eis den Gottesdienst für uns abhalten zu können.
Vor Kapitän Jacobsens Wohnhaus bleibt unser Tross geschlossen stehen â auch wenn einige von uns Mühe damit haben, so sehr schwanken sie. Betrunken wie von dem norwegischen Starkbier habe ich Bakewell noch nicht erlebt. Wordie und Hussey hören nicht auf zu kichern, rupfen einander die Mützen vom Kopf und zerzausen sich gegenseitig die Haare. Das Haus ist hell erleuchtet. Der sternenlose Nachthimmel steht darüber, und in der Ferne hört man wieder den Gletscher.
Kapitän Jacobsen stellt uns seine junge Frau vor, die einzige Frau auf der Insel, ach was, die einzige im ganzen Südpolarmeer, wie er stolz verkündet. Frau Jacobsen gibt jedem von uns die Hand, stellt sich jedem mit ihrem Vornamen vor, so dass sie zwanzigmal hintereinander dieselben zwei Wörter sagt: »Stina. Hallo«, »Stina. Hallo« â¦
Und weil er einen untrüglichen Sinn für Kurioses zu haben scheint, macht uns Jacobsen auf noch etwas Merkwürdiges aufmerksam: An den Erkerfenstern seines Hauses hängen Blumenkästen, und darin blühen Geranien. Es sind die einzigen Blumen auf der Insel, die einzigen Blumen im ganzen Südpolarmeer â¦
â¦Â »Stina. Hallo«, »Stina. Hallo.« Die hübsche, aber schon ein wenig verblühte Stina Jacobsen hat jeden von uns begrüÃt. Jetzt müssen wir uns verabschieden.
Die Jacobsens und ein kleiner Trupp Walfänger, der noch nicht schlafen gegangen ist, bringen uns zum Anleger. Alle Norweger wollen jeden von uns umarmen. Dafür reicht die Zeit nicht: Jungs, es ist einfach zu kalt.
»Sie werden etwas länger unsere Gäste sein müssen«, sagt Kapitän Jacobsen zu Shackleton und Worsley. »Aber wir werden Ihnen die Zeit schon verkürzen helfen!«
Er lacht wie ein Gletscher, und er knallt dem Sir eine flache Hand auf den Arm.
Shackleton bedankt sich auf seine eigene Weise und sagt: »Ich werde Ihre GroÃzügigkeit und Gastfreundschaft niemals vergessen, Fridtjof Jacobsen!«
Nichts Feierliches liegt darin, bloà so überwältigende Offenheit und ein so überraschender Ernst, dass Jacobsen sichtbar gerührt, aber auch ziemlich irritiert ist. Als er Tom Crean zum Abschied die Hand gibt, verneigt sich die schnurrbärtige Walfanglegende wie vor einem
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