Der eiskalte Himmel - Roman
geblieben im Schnee. Cheetham und Hurley, die beide schon hier waren, erläutern mit groÃen Gesten Grytvikens Sehenswürdigkeiten: Dort werden die Wale an Land geschleppt, da unter den Kranen, die aussehen wie Kapellen mit Angelruten, zerlegt man sie, und gleich da vorn steht auch das echte Gotteshaus, der Ort, wo Pastor Gunvald, mit dem laut Cheetham nicht gut Kirschen essen ist, die Walfängerseele zerlegt und nach Gottes Gesichtspunkten wieder zusammenfügt. Der schmutzig gelbe Turm von Grytvikens Kirchlein ist noch nicht mal so hoch wie der Mast, an dem die gleiche Flagge in der Windstille hängt, die seit drei Jahren am Pol aufgepflanzt steht: das norwegische Kreuz.
Zwei der drei Beiboote sind klar. Wenn der Sir bestimmt hat, wer an Bord Wache schiebt und die Hunde versorgt, geht es hinüber. Ich platze vor Spannung, denn angeblich ist der Leiter der Walfangstation Roald Amundsens Schwager.
Wild und Greenstreet bleiben mit sechs Mann zurück, darunter zum Glück der Bosân und der Heizer Stevenson, leider aber auch Holness, den ich mittlerweile sehr liebe. Wir anderen, zu zehnt in jedem der zwei Kutter, legen ab und rudern, pullen johlend und grinsend Achter gegen Achter, denn mehr Riemen haben die Boote nicht. In meinem steht Shackleton im Bug, während Käptân Worsley steuert. Drüben lassen die Veteranen die Jungspunde sich austoben. Derweil ihr Boot dahinsaust und eine Länge Vorsprung herausholt, stopft sich Crean einhändig die Pfeife. Einmal guckt er herüber, und ich meine, wie einen langsamen Blitz ein Lächeln in seinen Mundwinkeln zu sehen; aber sicher bin ich mir nicht.
Die Berge auf der Insel scheinen weder zur Erde noch zum Himmel zu gehören. Der Himmel ist vollständig weiÃ, und genauso weià sind die Hände und Finger der Gletscher, die über die Hänge bis ins Wasser der Bucht greifen. Die schwarzen Felsgrate und darüber die Gipfel sehen aus, als würden sie in der Luft stehen, und die Luft ist so schneidend kalt, dass man einen darin schwebenden Berg schon deshalb für gut möglich hält, weil man nicht lang hinaufsehen kann. Unentwegt blinzeln die Augen vor Kälte.
Als unser Boot die Hälfte der Strecke bis zum Anleger hinter sich hat, habe ich mich langsam an die Kälte gewöhnt und sehe deutlicher, wie die Insel beschaffen ist: Entlang der gesamten verschlungenen Küstenlinie der Bucht treffen sich Land und Eismeer in einem Gewirr aus blauschattigen Druckfalten und Gletscherfurchen. Die um den Fjord laufenden Felswände reflektieren das weiche Schneelicht, und wie ein glitzernder Hauch liegt ein Blauschimmer über dem Wasser, durch das wir fahren. Es riecht wie im verschneiten Tannenwald.
Aber nicht lange.
»Zwei Strich backbord, Käptân!«, ruft Shackleton, nicht aufgeregt, aber doch bestimmt. Ich pulle und kann nicht sehen, was in meinem Rücken ihn dazu veranlasst. Bis ich es rieche. Und bis ich sehe, dass das Wasser erst violett und dann rot wird, blutrot.
Ein grässlicher Verwesungsgestank liegt über der Buchtmitte.
»Gott, wie abscheulich«, sagt Hussey neben mir und drückt die Riemen aus dem Wasser. Die Ruderblätter auf Kopfhöhe, zieht unser Boot lautlos durch das rote Wasser, und jetzt recken wir die Hälse bugwärts. Die Wale treiben Seite an Seite, fünf oder sechs miteinander verzurrte und über eine quer darüber liegende Planke verbundene Kadaver, die Köpfe unter Wasser; nur die Mäuler schauen ein Stück heraus, Kiefer mit Zähnen, die jeder so dick und lang sind wie ein Männerschenkel.
»Pullt!«, ruft Shackleton. »Das hält ja kein Mensch aus. Pullt!«
Wir passieren eine weitere Kadavergruppe, dann lässt der Gestank allmählich nach. Creans Boot macht schon fest, und die Norweger helfen den Männern die Leiter hoch und begrüÃen sie.
»Eine groÃe Ehre, Sir Ernest!«, sagt einer der hageren Walfänger zu Crean, der sofort rot anläuft und den Irrtum richtig zu stellen versucht, indem er sich bückt und dem Sir auf den Landesteg hilft.
»Darf ich vorstellen: Tom Crean«, sagt Shackleton, sobald er oben steht und noch bevor er sich selbst zu erkennen gibt.
Das Wasser, das gegen den Anleger plätschert, ist noch genauso rot.
Wir sitzen bis tief in die Nacht hinein mit einem Dutzend trinkwütiger Norweger zusammen im Saal ihres Haupthauses. Der Boden ist, wie die Werkstatt meines Vaters,
Weitere Kostenlose Bücher