Der Eisvogel - Roman
Ergebnis ihrer Revolte, als selbst diese Sessel zu besetzen, ihre Wohlstandshintern draufzuschieben, Mauritz hatte recht; Ich vermassele Ihnen die Karriere, Ritter, Sie sind ja extrem, Sie sind ja ein gefährliches Subjekt, schrie Hertwig, gegen so was wie Sie haben wir ja gekämpft, und das kommt jetzt wieder hoch, raus mit Ihnen, Sie kommen an einer deutschen Universität, solange wir etwas zu sagen haben – wer war wir, Herr Verteidiger –, nie im Leben auf einen grünen Zweig, lassen Sie sich das gesagt sein, werden Sie Taxifahrer, Mensch – immerhin, diese Titulierung gönnte er mir noch –, aber lassen Sie sich nie wieder hier blicken! schrie Hertwig, nach Luft ringend, zog mit fahrigen Fingern aus seiner Jackettasche ein Asthmaspray hervor und sprühte sich in den Mund, ich stand schon im Vorzimmer, in das er mir gleich darauf folgen würde
– du bist nicht wichtig, du taugst nichts, du schaffst es nicht
– und Mauritz sagte: Unsinn. Natürlich ist ein Philosoph wichtig. Wer soll uns sonst die Ideen geben? Diese Zeit braucht Ideen wie keine zweite. Vielleicht noch nie war das Leben so leer, so ziellos wie heute. Es treibt dahin wie ein Schiff, dem das Ruder abgeschlagen ist
– liegen, träumen, rauchen, essen, trinken, sich nach jemandem sehnen. Eine Berührung. Eine Frau, ein Mensch, ein gutes Wort. In den U-Bahnen saßen die von Arbeit Heimkehrenden mit gesenkten Gesichtern, wo hatten sie sie verloren, vielleicht in einem Traum von Kindheit, und die jetzt ein- und ausstiegen, waren Puppen, ausgespien und angesogen von der Lichtergischt, der bunte Filz, zu dem sich die Reklameplakateverwischten, wenn die U-Bahn anzog, die flimmernden Rachen der Kaufhäuser, die mit Düften, Stimmen, Rausch lockten, komm komm komm, der du mühselig und beladen bist, hier kannst du das Glück eintauschen; die unterirdischen Eingänge, die mit klebrigen Neonzungen die Zögernden schluckten, hinein in die arbeitenden Speiseröhren, die von Kauf und Verkauf brodelnden Mägen, das brauende kauende verdauende Gedärm, in unablässiger Peristaltik vom Einschub der Waren, der Autos, der U-Bahnen, der Ankommenden, Habenwollenden, Hungrigen, die Straßen, Rolltreppen, Gaspedale unablässig geknüppelt von Schuhsohlen, unablässig von den Fieberschüben des Verdauens geschüttelte Eingeweide, Ausschub der Waren, der Autos, der U-Bahnen, Gehende, Besitzende, Satte, irgendwo mußte es ausdünnen, versickern und verschwinden, dieses verschwenderisch vergossene Licht, die für die kleingehäckselte Unruhe der Zifferblätter gekammerten Tage mußten irgendwo entfaltet, geglättet und recycelt werden, so schien es mir, so sehr glichen sie sich, Aufblendung von Helligkeit, Zenit, Abblendung, und von irgendwoher mußte sie in die Tage wuchern, die Angst, die
– Angst: meine Augen waren vollgestopft mit Bildern, die vom Mohn verbrannten Fotografien der Tage, die mein überreiztes Gehirn nachts, wenn ich nicht schlafen konnte, wiederherzustellen versuchte, es durfte nichts verlorengehen, nicht der Blick einer vorübergehenden Frau, nicht der Geruch der Kneipen, in den die Bilder tauchten wie in Entwicklerflüssigkeit, Lichtbriefe im Dunkel, frankiert mit den grünen Briefmarken der Billards; die mit Plüsch und hin- und hereilenden Kellnern und halblauter, unablässig wiedergekäuter Stimmenwatte und Songs von den Billboard-Charts herauf und herunter und Jukeboxes gefüllten Kavernen, die Boxen spuckten den Husten aus, der zur Tuberkulose fehlte: alles mußte erhaltenbleiben, mußte bewahrt und gerettet werden vor dem pausenlos häckselnden Ticktack der Uhren
– Angst: ein Philosoph, der sich damit beschäftigt, die Welt zu verstehen, den Geschehnissen einen Sinn zu geben, um den Menschen darin einen Platz zuweisen zu können, von dem aus sie ihm nicht mehr gefährlich werden konnten. Wenn ich das Leben verstehen lernte, konnte ich die Menschen auf Distanz halten. Natürlich ein krauser Gedanke, auch deshalb, weil es ja diese Menschen waren, die mich ernährten, indem sie zu mir in die Praxis kamen, die ich, um nicht in die Sozialhilfe abzurutschen und damit endgültig als ein Deklassierter dazustehen, eingerichtet hatte; die für die Sprechstunde – Dorothea spottete über diese Bezeichnung – Geld bezahlten, um von mir, der ich auch keine Antwort wußte, eine Antwort zu bekommen. Das Leben zu verstehen. Warum nicht gar. Aber es interessierte niemand, ob ich das Leben verstand, am wenigsten das Leben selbst: die Zeitungen
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