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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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oder Freundin, große Wohnungen, Autos und ihr gutes Auskommen, haben nur die üblichen Sorgen, werden geachtet und von ihren Verwandten, wenn sie sich zum Geburtstag treffen oder einer sonstigen Familienfeier, mit respektvollem, anerkennendem Schulterklopfen bedacht, und du? Was bist du, was kannst du, was hast du aus deinem Leben gemacht? Der Beste in der Schule bei Monsieur Hoffmann– trotz den Absencen in Mathematik, in denen ich aber in Wahrheit über die Eleganz einer Aufgabenlösung nachdachte oder über einen Satz aus der vorangegangenen Philosophiestunde –, der beste Student an der philosophischen Fakultät, die Dissertation mit Hertwigs Einleitung preisgekrönt, und jetzt? Jetzt, dachte ich, bist du ein Niemand. Ein Verlierer, der vom Geld fremder Menschen lebt. Du bist ein Parasit, ein Schmarotzer geworden, niemandem nütze. Ich betrachtete die Häuser und hatte bei jedem die Vorstellung, wie es wäre, hier, in diesem Haus, bleiben zu können, ein Beamter zu sein in den städtischen Verwaltungsgebäuden, im Bundestag zu sitzen und in irgendwelchen Ausschüssen mitzuarbeiten, ein kleines Rädchen nur, aber nützlich, abends würde ich sagen können: Dies und dies hast du geleistet, dies und jenes ist gescheitert, vorläufig, machen wir morgen weiter, jetzt, nach soundso viel Stunden Arbeit, habe ich mir meinen Feierabend redlich verdient; wie es wäre, in einem kleinen, aber feinen Verlag, der philosophische Bücher veröffentlichte, ein geduldiger, treu und sorgsam den Karren der Begriffe und falschen Kommata ziehender Lektor zu sein; in einem Energiekonzern zu sitzen und die Haushalte der Stadt mit Strom zu beliefern, jeden Tag, regelmäßig, eine nützliche, von anderen Menschen geachtete Existenz. Ich besuchte Kongresse, um bei den Vertretern meiner Zunft um eine Anstellung zu buhlen, irgendeine, noch so subalterne, Arbeit an ihren Instituten, sie kannten mich von früheren Kongressen; aber nichts ist schlimmer, Herr Verteidiger, als aus der Rolle zu fallen, die wir in den Augen der anderen einnehmen, es kränkt, wenn es Täuschung war, die Beobachtungsgabe; und wenn es keine Täuschung war, stachelt es die Schadenfreude an, nichts ist schlimmer, als betteln gehen zu müssen und sich zu entblößen: Sie sind gar nicht mehr bei Herrn Hertwig, haben wir gehört, aha, soso; sie ließen sichmeine Bewerbung zuschicken, dann vergingen die Monate, einer, zwei, drei, die Ablehnungen auf lakonisch gehaltenen Vordrucken Sehr geehrte Frau/Sehr geehrter Herr , das Unzutreffende war gestrichen, sie ließen mich zappeln, ließen mir durch Assistenten antworten, die mir ihre Ablehnung in schlecht verhehltem Triumph zu verstehen gaben, oder sie antworteten mir überhaupt nicht, Neid auf frühe Erfolge, Mißgunst und Schadenfreude, die Philosophen sind nur selten Menschenfreunde, oh, wie ich sie haßte, diese pfeiferauchenden Figuren mit ihren ewig schiefsitzenden Krawatten, angeschmuddelten Hemdkragen und absurden Frisuren, die mir auf diesen Kongressen begegneten; nach einiger Zeit stieg mein Abscheu gegen meine eigene Gilde, eine Gilde von Sonntagsrednern, intellektuellen Falschmünzern und Feiglingen, die nichts änderten am Lauf der Dinge, ins geradezu Irrationale; sie, die zufrieden waren, wenn sie den Lauf der Dinge nur richtig interpretiert hatten in einem Feuilletonartikel oder in einem Essay, der in einer Philosophiezeitschrift erschien; wie ich sie schließlich haßte und sogar verachtete, diese in Wahrheit ungebildeten, allem außer ihrem eigenen Fach zutiefst fremd bleibenden, herablassenden, arroganten Idioten, kann ich Ihnen nicht sagen, Herr Verteidiger. Sie standen auf den Fluren der Akademien und Kongreßhallen, nuckelten an ihren Pfeifen, nahmen sie beim Reden entweder gar nicht aus dem Mund oder wiesen mit den Stielen auf sich, erzählten sich obszöne Witze oder den neuesten Szeneklatsch, beklagten sich über mangelnde Aufmerksamkeit in den Feuilletons, im Rundfunk und im Fernsehen, wo überall nur noch völlig unzurechnungsfähige Leute säßen, und dabei verstopften sie, abgehalfterte Linke und Achtundsechziger, die nach dem Marsch durch die Institutionen in den Institutionen angekommen waren, uns Jungen die Wege, nahmen uns die Luft zum Atmen, klebten mit ihren Ärschenfest auf denselben Sesseln, die sie vorher, gestützt vom bildungsbürgerlichen Hintergrund, vom Geld ihrer verachteten und ach so verachtenswerten Väter, angegriffen hatten, und dabei wollten sie nichts anderes, das war das

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