Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
schrieben weiter von den Katastrophen, die Fernsehsender berichteten weiter tagtäglich von den Greueln in den Flüchtlingslagern Afrikas, in Nahost und Bosnien; keine Hungersnot war ungeschehen, nur weil ich einem Satz Wittgensteins eine weitere mögliche Bedeutung abgewann. Ich hatte Angst. Wovon leben? Das war die schlichte Frage, die ich mir jeden Tag aufs neue stellte. Alles wurde teurer, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr, es gab immer mehr Arbeitslose, immer mehr Firmenpleiten, und immer mehr glich das, was die Menschen trieben, die ich beobachtete, einem Kampf ums Überleben. Hoffnung, Spiel, Freude wurden kostbar, Zuversicht erstarrte in falschem Lächeln und schmolz vom Gesicht der Tage wie Schminke. Ich hasse meine Zeit. Ich hasse sie, weil sie Leute wie mich haßt. Vielleicht greife ich, pathetisch, wie ich bin, viel zu hoch; vielleicht sind Leute wie ich ihr einfach nur gleichgültig. Ich habe das Gefühl,nicht mehr atmen zu können. Ich bin ein musischer Mensch. Ich glaube, es ist kein Platz mehr für musische Menschen. Hier sind Kräfte am Werk, denen wir, denen Geist, Kunst, Musik etwas bedeuten, ohne die sie sich ein Leben nicht vorstellen können, nicht mehr gewachsen sind. Ich habe das Gefühl, zerrieben zu werden. Eine Kultur, die Menschen wie mich trägt, scheint es nicht mehr zu geben. Was tun? Drei Möglichkeiten. Die erste war der Selbstmord. Ich war mehrmals kurz davor. Aber ich stand doch zu fest im Leben, es war jener Punkt noch nicht erreicht, von dem aus es kein Zurück mehr gibt und den es, behaupten große Geister, zu erreichen gilt. Die zweite Möglichkeit war Resignation. Ich wählte die dritte: Widerstand. Ich ging zu Mauritz. Ich wählte die Gewalt, um die Gesellschaft, die mir die Luft nimmt, zu vernichten oder doch an deren Vernichtung mitzuwirken, wie geringfügig unser Erfolg auch immer ausfallen würde, wie absurd und aussichtslos ein solcher Kampf auch sein mußte. Aber wir hätten etwas getan. Gewalt erschien mir als die einzige Möglichkeit, zu Luft zu kommen, wieder atmen zu können
    – Dorothea sagte zu mir: Eigentlich ist doch alles so einfach, aber kaum berühren wir es, wird es kompliziert. Es ist alles einfach und schön. Ein Schmetterling auf einer Blume. Aber es bleibt nicht dabei, und ich frage mich manchmal, warum. Und wenn ich dich sehe, fallen mir gleich alle Probleme auf einmal ein, die ich habe. Du siehst immer aus wie der Ernst des Lebens, Wiggo. Take it easy, dann wird’s auch easy
    – Angst: Wir hatten die Leichtigkeit gekannt. Leichtigkeit, endlose, schwimmende Juniabende, rote Holzhäuser in Schweden in den Mittsommernächten, ein Mann mit einem Strohhut ging durch Kornfelder, die von der Erinnerung zu einem narkotischen Sonnenmeer überbelichtet werden, eine Zeichentrickfigur lief durch das Bild: Dunderklumpen. Bohemienstief in der Zeit. Wir waren jung, und die Erinnerung ist ein Mühlrad, von dem das Wasser immerwährender Sommer in schwerelosen Tropfen sprüht. Es war die Zeit der lichten Erzählungen. Wie fern schien Shakespeare mit seinen klaustrophobischen Stoffen, düster, dämonisch, bevölkert von wüsten, alttestamentarischen Figuren. Wir dagegen waren nicht pathetisch. Wir hatten Aldi und Kaba, den VW Käfer, den Sarotti-Mohr, die Citroën-Ente, Mittsommernächte in Schweden, wir hatten Zivildienst und Beziehungskisten. War es so? Wir erinnern uns, Dorothea. Die Wende kam und veränderte nichts, für uns. Und doch war etwas geschehen. Nicht nur die DDR war versunken, auch die alte Bundesrepublik und ihre seltsam zeitenthobene Zeit. Die Dämonen kehrten zurück. Pathos kehrte zurück
    – Mauritz sagte: Dieser Kerl hat dich rausgeschmissen, das hast du auf dir sitzenlassen, einfach so? Verdammtes Schwein, der verdiente, daß man es ihm heimzahlt, aber gründlich; und ich sagte: Was soll ich machen? Ich bin entlassen, und eine Klage oder etwas in der Art wäre doch nur lächerlich, ich kann mich in der Zunft dann erst recht nicht mehr blicken lassen, – Hat er keine Feinde? Die müßten dich doch nehmen? – Natürlich hat er die, wie jeder, der was taugt, aber es gibt keine Stellen, verstehst du? Und wer das Schwimmbad einmal verlassen hat, kommt nicht mehr hinein
    – ich dachte an Nizza, an London, wo meine Mutter inzwischen in Odas ehemaliger Wohnung lebte, mit einem Mann, den ich nur auf einer Polaroid-Fotografie einmal gesehen hatte, die Bilder flimmerten vorüber, das Millenniums-Rad auf einer Videowand, die stahlfarbene Themse davor,

Weitere Kostenlose Bücher