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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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mehr als der Betrag, der für laufende Ausgaben im vergangenen Monat vom Konto abgegangen war, durch das Einkommen ersetzt wurde. Ich hatte gearbeitet, um mir das Philosophiestudium zu finanzieren. Vater war nicht bereit gewesen, für solche Hirngespinste, wie er sagte, zu zahlen. Im zweiten Semester hatte mir Hertwig ein Hochbegabtenstipendium verschafft, das mich vom Zwang, neben dem Studium Geld verdienen zu müssen, entband, das war ein großes Glück und Privileg für mich, das ich vor den Kommilitonen sorgsam geheimhielt, um nicht ihren Neid und ihre Mißgunst zu wecken. Und jetzt merkte ich, daß es nichts mehr gab, das die Ausgaben ersetzte. Ich bekam die Überweisungen vom Arbeitsamt, aber sie reichten kaum, selbst nur die Lebenshaltung zu decken. Ich hatte in einer schönen, wenn auch kleinen Wohnung am Savignyplatz gewohnt, nicht weit weg von Dorothea, ich konnte diese Wohnung nicht mehr halten und mußte umziehen, fand die Wohnung in Friedrichshain, in der ich jetzt lebe, in einem heruntergekommenen Mietshaus, dessen Holztreppen immer Kalkspuren trugen vom abbröckelnden Putz. Vor mir hatte ein Lehrer dort gewohnt, der mir von der langenPhase seiner Arbeitslosigkeit erzählte. Nach über zweihundert Bewerbungen habe er endlich eine Stelle gefunden, an einem Gymnasium. Abends lag ich auf der Campingliege in der noch fast leeren Wohnung und hörte dem Geschrei und dem Streit in den Nachbarwohnungen zu, Türenschlagen, Frauengekeif, Männergebrüll, Babygeplärr, und ich dachte: Jetzt bist du erledigt
    – tu’s, tu’s doch endlich, du Feigling, auf einen Schlag bist du alles los
    – stundenlang lag ich im dunklen Zimmer, starrte auf die Schatten, die über die Decke wanderten, auf- und absteigende Lichtmuster von Autoscheinwerfern, Geräusche schienen das Zimmer anzuheben, zu entwurzeln, machten es zur Arche; Tangos, die aus den offenen Fenstern der Wohnung gegenüber wehten, in der ich die Tanzlehrerin mit einem imaginären Partner Schritte und Figuren üben sah, der große Hund hechelnd vor ihr auf der Chaiselongue, darunter die Wohnung des Videoverleihbesitzers, der die Gardinen offenließ, wenn er sich einen der Pornos aus dem Laden mitgebracht hatte und sie im Schaukelstuhl betrachtete, ich sah hin und wieder eine Hand in die Schale mit Salzstangen greifen oder von rechts eine Dose Bier aus einem Sixpack fischen, es beeindruckte ihn offenbar nicht sehr, wie die Mädchen sich mit immer gleichem Erfolg an verschiedenen mehr oder minder herangezoomten Gemächten abarbeiteten, die erigierten Bockwürsten glichen; einmal sah er einen Affenporno, King Kong hatte eine tropenbehelmte Blonde entführt und kollabierte in ebenjenem Moment, in dem die Tanzlehrerin oben zu hüpfen begann, King Kong riß das Maul auf, verdrehte die Augen und trommelte sich auf die Brust, während die Blonde die Hände zusammenschlug und einen froh-entsetzten Blick auf seine Leibesmitte warf, wo sich etwas bewegte, dessen Kraft der Regisseurdurch Anhebung einer Hantel mit fußballgroßen Gewichten vergegenwärtigte, Tangos wehten, die Tanzlehrerin hielt inne, sackte dann in sich zusammen und ließ sich nach einer Weile auf die Chaiselongue fallen, Geräusche von der Straße, schlurrende Schritte, Gelächter, Notarztwagensirenen, und über mir ein schwimmendes Klavier, wohin, wohin, mein Zimmer war eine fliegende Arche, auf dem Fußboden der Plattenspieler, die Schallplatte tanzte auf und ab, rhythmisch pulsend, The Who, My Generation, oder die Französischen Suiten mit Glenn Gould, oder Kind of Blue, in dem sechs Musik-Götter sich traumwandlerisch sicher in immer neue Welten verwandelten; so konnte ich stundenlang liegen, den Geräuschen zuhören und mein leeres Jackett anstarren, das vor mir auf dem Bügel am Schrank hing, und denken: Da drin steckst du, es hat die Form deines Oberkörpers angenommen, da hängt es, leer und auf merkwürdige Weise verbraucht, so wie du leer und verbraucht bist, es hängt da, als wärst du tot
    – das Wappentier einer stolzen und stillen, im Hintergrund wirkenden Gilde miteinander verbundener Menschen, hörte ich Kaltmeisters Stimme, ich zog durch die Stadt, manchmal mit Jost, wenn er Zeit hatte, meist aber allein, ich sah mir die Häuser an und dachte: In diesem Haus dort oder in dem daneben könntest du jetzt ein und aus gehen, als ein aufstrebender, angesehener Anwalt zum Beispiel, oder dort, das Universitätsklinikum, die Ärzte eilen hinein und hinaus, viele kaum älter als du, haben Frau

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