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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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schon Frau und Kind, aber ... Lassen wir das. Vater winkte müde ab. – Papa, kann ich dir helfen, ich stand auf und ging zu ihm, ich sah, daß er weinte
    – arbeitslos. Heißt: ohne Arbeit, ohne Verdienst, ohne Zukunft. Eines Morgens, nach einhundertachtundneunzig sämtlich negativ beschiedenen Bewerbungen in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Kanada, Australien, England, Frankreich, USA, Ungarn, Liechtenstein und Polen, ging ich in ein Betongebäude mit dem im Knie geknickten A auf der Fassade, suchte den Flur für die Akademiker, zog eine Nummer aus dem Automaten an der Wand und füllte Formulare auf grauem Papier aus. Philosoph, sagte die Sachbearbeiterin zu mir, die meine Daten aufnahm. Das können Sie vergessen, da will ich gleich mit offenen Karten spielen. Nein, Herr Ritter, wenn Sie in ein Arbeitsverhältnis zurückkehren wollen, müssen Sie umschulen. Mein Gott, ja, Sie können es versuchen, – Ich habe es schon versucht, – Und? Na, sehen Sie. Solange ich beim Arbeitsamt bin, und das werden bald zwanzig Jahre, haben wir noch nie einen Philosophen zurück in ein philosophisches Arbeitsverhältnis vermitteln können. Wir hatten mal einen, der ist bei BMW in der Öffentlichkeitsarbeit untergekommen. Ich überlegte, was ein philosophisches Arbeitsverhältnis sei. Die Sonne spazierte durch den nüchtern grauen Raum, ein Bild von Lanzarote hing an der Wand, eine dickfleischige Grünpflanze stand auf dem Fensterbrett, eine Opuntie mit Mickymaus-Ohren auf dem Stahlschrank, in dem auch meine Akte begraben werden würde. Schulen Sie um, den Rat kann ich Ihnen nur geben, verschwenden Sie keine Zeit, aber, wie gesagt, Sie können es natürlich versuchen. Viel Glück. Nachdem sie mich entlassen hatte, irrte ich durch die Flure des Amts, desorientiert und wie im Unglauben darüber, daß all dies mir geschah, daß das keinTraum war, sondern etwas, das blieb, wie oft ich auch diese Flure entlanglief auf der Suche nach einem Ausgang aus dem Traum, Feuerlöscher am Ende der Flure, hellgrüne abgewetzte Auslegware, summende Kopierer, von reizlosen Frauen mittleren Alters bedient, gekleidet in Kostüme, deren Grau mit dem Grau der Wände harmonierte, mit dem Stahlgrau der Schildchen neben den Türen, auf denen Name und Arbeitsgebiet der Sachbearbeiter standen, ein farbiger Punkt, der die verschiedenen Berufsgruppen verschlüsselte: Ungelernte, Arbeiter, Angestellte, Akademiker, der Geruch nach Ozon von den Computern, nach Discounter-Zigaretten, der von den Raucherinseln ins Treppenhaus und in die Flure kroch, schlechter Seife und billigem Parfum; Wartebuchten, voll mit Menschen, die die Köpfe gesenkt hielten, Ellbogen auf den Oberschenkeln und die Hände ineinander verschränkt, deren Blicke nervös auf den Monitor über dem Wartenummer-Automat glitten, um die aufleuchtende Nummer mit der auf ihrer Marke zu vergleichen, Türkinnen unbestimmten Alters mit Kopftüchern, schweigende Aussiedlerfamilien, russische Zeitungen oder Bücher lesend, hagere Frauen vom Balkan, die unbekümmert ihre Kinder stillten, ältere Männer, die ihre Mützen in den schwieligen Händen drehten und schnaufend atmeten, junge Männer mit gegelten Haaren, schwarzem Einreiher und schwarzen, blankgeputzten Schuhen, sie betrachteten ihre Fingernägel, kramten in ihren Aktentaschen, klappten hektisch ihre Handys auf und zu, tippten SMS ein mit verbittertem Blick und verbissen vorgestülpten Lippen, und saßen abseits von den anderen in der Ecke, mit einem freien Stuhl zwischen sich und den übrigen Wartenden, und wenn zwei solcher Einreiher-Yuppies aufeinandertrafen, stand einer auf und schützte ein Telefonat vor, verschwand, bis der andere endlich aufgerufen wurde, schaute zuvor wie zufällig immer wieder um die Ecke, wieum das Terrain zu sondieren, zuckte zurück, wenn der andere noch dasaß. Ich sollte in den kommenden Monaten die Verhaltensweisen von Menschen kennenlernen, die wie ich von der großen Maschine draußen ausgespien worden und hier gestrandet waren, Abfall der Überflußgesellschaft, unbrauchbare Almosenempfänger, die dem Staat und dem Steuerzahler auf der Tasche lagen und dies gelegentlich auch zu wissen bekamen. Zuerst verstand ich noch nicht recht, was geschehen war. Man weiß, was man ist und auch, was man nicht mehr ist, man liest es schwarz auf grau; aber man begreift es nicht. Etwas in mir wehrte sich dagegen, meine neue Situation anzuerkennen. Ich habe nie viel Geld gehabt oder verdient, aber ich war doch gewöhnt, daß

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