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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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da war auch Vater, natürlich ein Trug, wenn ich wach lag und nicht schlafen konnte, Erinnerung oder vielleicht auch nur Verwirrung gaukelten mir etwas vor; war es mein Plattenspieler, der dierötlich ineinanderschwimmenden Lichtreflexe an die Zimmerdecke warf, oder war es auf einer Feier damals in London, Otis Redding lief, Quitten lagen in einer manganschwarzen Schale, Vater, der sich mit einer ruhigen, überlegenen Geste eine Cohiba ansteckte; die Villa am Wannsee, die Geburtstagsfeier, die ich im Streit verlassen hatte; London, ein Nachmittag mit kupferfarbenen Rändern, spüre ich Mutters Hand oder Jeannes, die die Qualität eines Hemds aus sehr leichtem weißem Leinen prüft, das ein fünfzehnjähriger Junge trägt, eben jetzt das Gefühl der Berührung wie ein Phantomschmerz, und dabei ist unausdenkliche Zeit vergangen seitdem, ein Fluß, ein Strom, abgeflossen vom Treibgut zukünftiger Tage, das man, wenn man erkannte, daß der eigene Name darauf stand, man selbst der Adressat war, befremdet und ungläubig annahm, Erinnerung, Mutter in einer Galerie im Westen Londons, die sie gemeinsam mit dem Mann führte
    – eine Zeitlang stand ich jeden Morgen um sechs Uhr auf, ging ins Bad, wo ich mich über das Waschbecken beugte, um aus dem Summen in meinem Kopf die Kontrolle über mich zurückzugewinnen, das Gesicht war in der Nacht zu einem teigigen Mond zerflossen; wenn ich die Zähne putzte, schloß ich die Augen und fiel, fiel in einen grauen Strudel von Müdigkeit, ich mußte mich am Waschbeckenrand festhalten, um nicht zu stürzen, wusch mich mit eiskaltem Wasser, das mir die Benommenheit erbarmungslos vom Gesicht riß wie eine Totenmaske, an der Fleischfetzen, Hautfetzen hängenbleiben beim Abnehmen, dann fügten sich meine zersplitterten Augen allmählich wieder zu etwas Ganzem, die Risse im Tageslicht, das fahl und kalkig aufglomm, verschwanden nach und nach. Ich setzte mich in eine U-Bahn und fuhr irgendwohin, nur um das Gefühl zu haben, dabeizusein. Ich saß im Charlottenburger Park und lachte. Ich sah den Schwänen zu, abersie wollten nichts von mir wissen. Immer ziehen die Schwäne ihre Bahnen in den Parks, auf den Flüssen, tunken ihre Schnäbel ins heilignüchterne Wasser und wollen von den Menschen, die sie beobachten, nichts wissen. Absurder Gedanke, ich weiß, Herr Verteidiger. Aber diese Gleichmütigkeit – ist sie nicht diabolisch? Alltag: aufstehen, zur Arbeit gehen, heimkommen, essen ... ist das nicht diabolisch? Ich sah den Schwänen zu und lachte. Manchmal denke ich, daß die Tiere viel schlauer sind als wir. Sie können sprechen, sehr wohl können sie das. Aber sie tun es nicht, weil sie sehen, was dabei herauskommt. Sie haben ihre Konferenzen, auf denen sie das auswerten, was sie in der Menschenwelt gesehen haben, und dort beschließen sie, daß es am klügsten ist, zu schweigen. Wer spricht, bekommt einen Steuerbescheid, wer schweigt, Whiskas morgens und abends. Fast täglich ging ich auf die Bank – Vaters Bank – und prüfte den Stand meines Kontos. Seitdem ich verdiente, hatte ich mir außer der Wohnung am Savignyplatz nie etwas geleistet; jeden Pfennig Einkommen, der von den laufenden Kosten übrigblieb, deponierte ich auf dem Konto. Es war die Zeit der steigenden Aktienkurse, der New Economy, der jungen Männer in Maßanzügen und mit wirbelnden Aktentaschen auf hellblauen Plakaten, wo der Name einer Internetfirma in eckigen Klammern stand. Die Telekom wollte an die Börse und gab die T-Aktie aus, nach der alle fieberten. Alle? Ich nicht. Über Dorothea erfuhr ich, daß Vater warnte: Das sei keine Volksaktie, man solle kaufen, aber vorsichtig. – Wollen Sie nicht was aus Ihrem Geld machen? fragte mich der junge Banker, der an einem Schalter von Vaters Bank Kunden wie mich betreute: mäßiges Einkommen, kleine Fische, peanuts. – Ja, schon, sagte ich. Ich lege auf etwas Sicheres Wert, haben Sie da Möglichkeiten? Ich bin kein Zocker. Er gab mir einen Termin. – Eine Anlage für die Rente,sagte er, als wir uns trafen, in einem dieser mit Milchglas von einem großen Büroraum abgetrennten Verschläge, wie sie für Banken und Versicherungen typisch sind. Aber bevor wir darüber reden, muß ich Ihnen dieses Papier hier geben. Er schob mir ein Formular über den Tisch, auf dem vier Kreise zu sehen waren, erzählte etwas von Risikogruppen und Anlagestrategien und tippte auf den vierten Kreis. – Da steht: erhöhtes Risiko, wandte ich ein. Ich möchte das Geld aber sicher anlegen.

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