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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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zweiundzwanzig Uhr nach Hause, und nun war er eben doch eher nach Hause gekommen, für diesen Fall hatten Mauritz und ich ein Zeichen vereinbart: zweimal Lichthupe, aber Mauritz hatte es mir nicht gegeben
    – Hertwig wartete, tappte mit dem Stock auf dem Fußboden, tastete einen Halbkreis ab in der Art, wie ein Blinder sich voranbewegt, er trat etwas zurück, so daß ich nur noch die Stockspitze wandern sah, ich hörte sein schweres Atmen, dann das Sprühgeräusch seines Asthmasprays, plötzlich begann er zu kichern, und ich erwartete, daß er mich jeden Moment auffordern würde, mein Versteck zu verlassen: Kommen Sie heraus, Ritter, aus diesem lächerlichen Versteck! Nur ein Idiot wie Sie kommt auf die Idee, sich genau dort unsichtbar zu machen, wo auch der klischeeverliebteste Gutmensch Sie zuerst vermuten würde; dachten Sie ernsthaft, daß ich Ihre amateurhaft verschleierte Anwesenheit nicht bemerkt habe? – Sosehr ich mir gewünscht hatte, ihm gegenüberzustehen, in seiner Wohnung, ihn zu demütigen und mich zu rächen, sosehr wünschte ich mir jetzt, diesen Einbruch nie unternommen zu haben oder wenigstens unbemerkt wieder aus der Wohnung verschwinden zu können, ich hörte, wie Hertwig kichernd hinausging, die Schuhe polternd fallenließ, murmelnd denMantel auszog, das Geräusch eines angerissenen Streichholzes, kurz darauf der Duft seines Pfeifentabaks, er machte sich in der Küche zu schaffen, unablässig brabbelnd und kichernd, klapperte mit Töpfen und Geschirr, würde er mich sehen können, wenn ich jetzt mein Versteck verließ, er hatte das Licht in der Stube nicht gelöscht, ich schwitzte unter der Clownsmaske und mußte außerdem auf Toilette, das machte mich wieder wütend
    – du bist zu weich, Wiggo, im Grunde bist du sentimental und wehleidig, von Selbstmitleid und Anmaßung getrieben, hörte ich Mauritz’ Stimme in mir, ausgerechnet Mauritz hatte das zu mir gesagt, meine Wut wurde stärker, auch mein Haß auf mich selbst, hatte er nicht recht, war ich etwa nicht zu weich, unfähig, etwas durchzuziehen, Mauritz’ Bemerkung hatte in mir gebohrt, sie war der Grund gewesen, daß ich den Einstieg bei Hertwig allein unternehmen wollte
    – aber dann kann ich dich nicht überprüfen, – Du wirst es wissen, wenn ich lüge; ich bin kein Weichei, Mauritz, – Du bist von der Krankheit der Intellektuellen zerfressen: dem Zweifel, du bist ein Skeptiker, und Skepsis ist die Vorstufe des Zynismus; indem man an allem zweifelt, kommt nichts zustande, dem Skeptiker fehlt nur die Enttäuschung des Zynikers, seine Bitterkeit, die im Grunde gekränkte Liebe ist, der Zyniker ist enttäuscht darüber, daß er nicht glauben darf, hörte ich Mauritz’ Stimme in meinem Versteck, der Zweifel, der Zweifel, hallte es nach in mir, du bist verkommen, du bist ein Verbrecher, sagte eine andere Stimme, suche doch für dein eigenes Versagen nicht die Schuld bei anderen, deine Selbstüberschätzung hat wirklich krankhafte Formen angenommen
    – das Telefon klingelte, der alte Bakelitapparat auf einem Tischchen neben dem Klavier, das einzige, was in dieser Ecke nicht staubig gewesen war, ein massives schwarzes Telefon mithochliegender Wählscheibe und litzenumwickelter Leitung, ein antiquarischer Apparat, jetzt, als das Klingeln Hertwigs Geschirrklappern zerschrillte, wunderte ich mich darüber, daß in dieser Wohnung moderne Technik, Computer, Fax, Mobiltelefon, vollständig fehlten, jedenfalls in den Räumen, die ich erkundet hatte, auch einen Fernseher gab es nicht, das allerdings war nicht ungewöhnlich für Philosophen, immerhin, überlegte ich, konnte Hertwig sein Renommee auch von der Universität aus verwalten, zuhause wollte er womöglich ungestört sein, war nur über das alte Telefon mit der Außenwelt verbunden, und gewiß kannten seine Nummer nur wenige vertraute Menschen
    – sentimental sentimental tu’s doch Wiggo tu’s doch
    – ohne seinen Namen zu nennen oder den des anderen zu erfragen, begann Hertwig zu sprechen, er sagte du und Gerald, ich hörte schwitzend zu, wie er und sein Gesprächspartner, es mußte einer seiner Kollegen sein, die jüngsten Veröffentlichungen der philosophischen Welt durchhechelten: Hast du den Unsinn gelesen, den dieser XY verzapft hat? Der ist doch ein Schüler von diesem ABC ... Kein Wunder, aus dieser Gegend hat schon immer der Stuß geschossen, so ging es eine Weile weiter, mich packte wieder die Wut bei diesen Tiraden, nur die Überlegung, daß der andere alles würde

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