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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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erklärt den Menschen vielleicht besser als alles andere. Natürlich, was man liebt, erklärt den Menschen auch, aber man erfährt, daß Liebe Neid verursacht, nicht gern gesehen wird, jedenfalls von denen, die nicht Gegenstand (er sagte wirklich: Gegenstand) der Liebe sind, deshalb versuchen Menschen oft, sie zu verbergen. Ängste aber lassen sich schwerer verbergen als Liebe. Wie du eine Gabel hebst in einem Restaurant, wie du die Zeitung liest (ich lese übrigens keine, Herr Verteidiger) oder welche Kleidung du bevorzugst: alles trägt den Stempel deiner Angst. Ich sah Wiggo an, der Mauritz anstarrte und rote Backen bekommen hatte und bestimmt gleich in den Diskurs eintreten würde, und dachte mir: kein Wunder
    U nangenehm ist es, den Beamten der Kriminalpolizei auf ihre Fragen zu antworten, ihnen zum x-ten Mal den Tathergang zu schildern, jedem neuen Beamten aufs neue; vielleicht verlangen sie das, um nach Widersprüchen zu fahnden, vielleicht, um mich von Ihren Weisungen abzukoppeln, Herr Verteidiger, denn auffällig oft suchen sie sich Tage aus, an denen Sie nicht kommen, werfen scheele Blicke auf das Kuvert, in das ich die besprochenen Bänder stecke, registrieren Ihren Namen darauf, und wenn sie Ihnen begegnen, malt sich Verlegenheit auf den Zügen der Beamten, von denen manche kaum älter sind als ich. Unangenehm auch die Studenten, siedrängen sich ins Zimmer und starren auf meine Wunden, die Jost ihnen zeigt, er fragt nach Verbrennungsgraden und Fraktureinteilungen, Weber A, B und C habe ich gelernt und wie Schultereckgelenksverrenkungen eingeteilt werden, er zeigt Röntgenbilder und stellt seine Fragen, um ins Schweigen hinein mit müder Resignation die Achseln zu zucken, dann bedside-teaching, die entsetzten und zugleich eigentümlich leeren Gesichter der jungen Frauen, manche Studenten im Hintergrund tuscheln, nachdem sie in meine Krankenakte geblickt haben, und dann würde ich am liebsten Raus! brüllen, raus, raus allesamt. Ich lese Manuelas letzten Brief. Nur Kinder vermuten Gespenster nur im Dunkeln. Ich konnte im hellen Licht eines Sommertags auf dem Kurfürstendamm stehen und den eisessenden, Haute Couture tragenden Witwen im Café Kranzler zusehen; es war nur ein Bild, nicht die schlendernd sich wandelnde, rißlose Wirklichkeit. Ich hatte immer das Gefühl, daß der größte aller Trugschlüsse ist, den Alltag für etwas wie einen konstanten Hintergrund zu halten, vor dem Träume und Visionen vorübergaukeln; daß die sogenannte Wirklichkeit nur ein Film ist, von Dämonen gedreht und abgespielt zu unserer Täuschung und um uns in Sicherheit zu wiegen. Und jetzt, eben jetzt an diesem Sommertag auf dem Kurfürstendamm, können sie genug haben vom Täuschen und Spaß daran finden, uns diese Wirklichkeit wegzunehmen und durch eine andere zu ersetzen – wie man einem Kind, das eine Bilderbrille aufgesetzt hat, eine hübsche virtuelle Giraffe vor den Augen wegnimmt und durch ein zähnefletschendes Ungeheuer ersetzt. Sie hatte eine Karte beigelegt, die ich immer wieder betrachte: Eine Figur rudert auf einem kleinen Boot durch eine Wasserlache in einem Zimmer, das sie nicht verläßt; rudert an einem Schrank, einem Stuhl, einem Armsessel vorbei
    – ich hatte etwas getrunken und dann eine Beruhigungstablette genommen, um schlafen zu können vor diesem Freitag,nicht, daß mich Gewissensbisse übermäßig plagten, ich verdrängte den Gedanken daran, ließ die Demütigungen Revue passieren, mein Leben, das so einfach begonnen hatte und dann immer schwieriger geworden war, eigentlich war alles so unkompliziert gewesen, und die Sonne hatte geschienen, und dann war es dunkler geworden und der Wiggo, der alle Voraussetzungen gehabt hatte für ein glückendes, erfolgreiches Leben, dem fast alles leicht- und zugefallen war, der aber, wenn es darauf ankam, auch hatte kämpfen können, dieser Wiggo lag wach in einem Bett in Friedrichshain, sozial entgleist, und plante, seinen ehemaligen Philosophieprofessor in seiner Wohnung heimzusuchen, in der geisteskranken, aber gerade darum, hatte ich mir überlegt, furchterregenden Verkleidung als Clown, die Maske lag auf einem Stuhl und zeigte ihre Knollennase, das grellgeschminkte Grinsen der Wand, kein Pathos mit schwarzer Rächermaske oder Strumpfgesicht, das wäre der simple Einbrecher, schlimm genug für den alten Mann, aber verdaulich wohl doch, weil nichts Irritierendes blieb außer dem Umstand, daß man auch in seiner Wohnung nicht mehr sicher sein konnte; eine

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