Der Eisvogel - Roman
doch wohl nicht wahr sein, du bist im falschen Film. Nele solle sich bitte vorstellen, sie triebe nach einem Schiffsunglück auf einer Holztür, allein, daneben ihre Mutter, die sich verzweifelt anzuklammern versuche, die Tür aber halte nur einen Menschen aus, würde unter zwei Menschen unweigerlich kentern. Würden Sie Ihre Mutter töten, um selbst zu überleben, oder würden Sie sich opfern für Ihre Mutter? Ich drehte mich um und sah ihn da stehen, mit verschränkten Armen, den stechenden Blick in ihren gebohrt – der von seinem rechten Auge zu seinem linken wanderte und zurück, immer im Wechsel. Dabei griff sie sich ins Haar und kringelte dort ganz langsam, wie traumverloren, eine Schnecke. Dann wurde ihr Blick fachlich. Das kannte ich an ihr, dieses aufglimmende, plötzlich witternde Psychiater-Interesse. Ich konnte ihr ansehen, daß sie im Geist einen Anamnesebogen öffnete in diesem Moment
– Herbst, Zeit, die alles beherrschte, feiner Sandstrahl in gewendeten Uhren; Schatten, die Schatten warfen, erst wenn man genauer hinsah, waren es Menschen, ich beobachtete, durchstreifte die Viertel der Stadt, die noblen und weniger noblen, die Luxusmeilen mit ihren Geschäftigen und Bettlern, die, eine Papptafel zwischen den Händen, einen zerschlissenen Hut, ergeben vor den Geschäften hockten, spürte, daß es auf mich und was ich dachte, fühlte, wünschte nicht ankam, ob ich lebte oder tot war, wen kümmerte es, Passanten trieben vorüber, gesenkten Blicks, schienen niemanden wahrzunehmen, glichen eher von mächtigen Strömungen erfaßten Partikeln als Lebewesen, die selbständig und frei handelten. Lichtergischt,Tag wurde Abend, Nacht wurde Tag, Dämmerung, Zenit, Dämmerung, das Schiff auf dem Ozean, Wanderdünung, hinauf, hinunter, einzelne Bojen im konturlosen, in Rauch gesäten Fortgang der Dinge, wohin, wohin, vielleicht war es ohne Bedeutung, vielleicht kam es nur darauf an weiterzugehen. Zeit, bad news is good news, Stimmen, raschelnder Wind, die Bilder der Hungersnöte, der Kriege, Verwüstungen und Armut, der hier noch unvorstellbaren Armut, sie flackerte über Monitore und quoll quäkend, inmitten des obszönen Kauft-Kauft-Gesumms, aus den Lautsprechern, schrillte über Telefone, kroch aus Faxapparaten, schwang um die Häuser und über den Straßen, ein porendurchdringender Dunst, ein elektrisch knisterndes Arom; die Menschen waren hellwach und sogen es mit geheimer Gier ein, niemand konnte ausweichen, las man die Zeitungen nicht mehr, schaltete die Fernseher und Radios, die Faxgeräte und Computer ab, so waren doch in den Schulen, Universitäten, Fabriken und Büros Menschen, die sie nicht abbestellt oder abgeschaltet hatten, in den Schaufenstern flimmerten Videowände, Nachrichten schäumten auf wie zu lange gekochter Brei, Regenbogenmagma, schnell erstarrt, schon splitternd an den Straßenrändern, vom zerschnittenen Licht zerschnittene Scheiben, Zeitungen rollten auf, walzten sich in den U-Bahn-Stationen, an Kiosken zu farbkastenbunten Jagdstrecken aus, Handys plärrten, Short Messages tickten über Displays, Börsenbänder über Info-Screens, man traf Freunde, in den Kneipen hingen Bildschirme über den Theken, selbst in der Stille nobler Geschäfte lauerte der Schatten, die Angst, man sah all die schönen Stoffe, erlesene Proben der Schneiderkunst, entsetzlich teure Taschen für – wie oft? – entsetzlich gewöhnliche Aktenstücke, dahinter kam das Gesehene hervor und dann die Furcht, es vielleicht zu weit zu treiben, und vielleicht auch, in jäh erschreckenden Augenblicken, dieVision eines Gesichts, abgezehrt und von Armut gezeichnet: das das eigene war. Der eigene Körper, noch mit Luxus geschützt, entbehrte plötzlich so einfacher und sonst immer vorhanden gewesener Dinge wie Brot und Obst, Wasser und Fett, es war der Hunger plötzlich, die teuren Stoffe wurden den Händen fremd, der Inhaber des Geschäfts, ein distinguierter, gehobener Mann, wurde auf einmal undurchsichtiger und verbeugte sich leicht, wenn man zurückwich aus der so bedrohlich gewordenen Stille, die den Lärm draußen erst recht hörbar machte, wenn man zurücktrat auf die Straße, aus einer Angst in die andere, die Menschen liefen hastiger, blickloser, mit in sich gekehrten, angespannten Gesichtern, in den Nächten lagen sie wach in den Betten und konnten nicht schlafen vor Angst, vor Einsamkeit, Unruhe und bösen Ahnungen, Krieg, alle wußten davon, ich sah, hörte, las es jeden Tag, trank es wie Gift, es machte die
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