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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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durchzog, in dem wir damals lebten
    – es lag in der Nähe des Hafens und hatte morgens, wenndie Sonne die kalten Klingen des Mistral in ihrem Strahlenkorb aufzufangen begann, Tapeten voller zögernd vorüberziehender Schattentheater, eine Vorhut geflügelter Gießkannen, dann Seepferdchen und Kaftane, aus denen Brassen schwammen, tiegelgroße Lichtscheiben. Sie glichen den Nagelrochen, die Antoine und ich manchmal in der kleinen Bucht sahen, wo wir fischen und baden gingen. Der Strand war voller Kiesel und wurde kaum noch besucht. Die wettergraue Umkleidekabine an den Dünen besaß Astlöcher, dort sahen Antoine und ich einmal Jeanne beim Umkleiden zu, hielten den Atem an, wenn Jeannes runde Hüften, die Brüste mit den flamingofarbenen, von der Kälte aufgerichteten Warzen vom Licht beraucht wurden, das durch die Ritzen einfiel. Ihr könnt ja ins Kino gehen, hatte Vater gesagt. Mutter winkte ab, auch sie war nach diesen Sommertagen müde. Ich ging mit Oda ins Kino; aber sie langweilte sich. Seid nicht verstimmt, weil unsere Figuren nicht immer die gleichen Gesichter haben; sie sind darin dem Tod und dem Leben treu, hörte ich im abgedunkelten Saal. Antoine, der Junge mit den abstehenden Ohren und Sommersprossen wie Feuersprenkel, saß oft schon mittags im Kassenverschlag hinter zugezogenen Vorhängen, weil er dort in Ruhe gelassen wurde, unter einer gebrechlich raspelnden Glühbirne las er Asterix - Comics und Playboy -Hefte, die Finger vieler Blätterer hatten den Glanz von den Mädchenkörpern gewischt. Ich lauschte. Oda saß neben mir mit verschränkten Armen. Was mochte sie denken, meine ältere Schwester mit dem langsam hin- und hergeschobenen Motta-Eis im Mund, das Antoines Großvater, der pensionierte Notar mit Bismarckschnitt und ewig bartstoppeligen Wangen, zwischen den Reihen hindurchgehend aus einem Bauchladen nach dem Vorfilm verkaufte, was mochte sie denken bei der Szene, die das Prädikat auf dem Filmplakat rechtfertigen mußte, eine Frau, ein Mann, Berührungen,Blicke, die länger dauerten als alles, was ich kannte und was nicht verboten war, zu dauern pflegte. Ist es nicht an der Zeit für sie zu ahnen, daß das Fleisch eine Uhr ist, eine Uhr, die nicht repariert werden kann? hörte ich die Stimme des Erzählers, die ich später in einer Geschichte von Harold Brodkey wiederfinden würde. Ich, der Wiggo, der ich damals war, der Französisch sprach wie die von der Mittelmeersonne mahagonibraungebrannten Jungen, die mit Antoine und mir Boule spielten, war fünfzehn Jahre alt geworden. Meine Mutter hatte darauf bestanden, mich im Sommer fortan in Anzügen aus weißem Leinen zu sehen, die für meinen Sohn und für niemand sonst gemacht worden waren, wie sie mit Nachdruck sagte. Dein Vater trägt sie auch, unser Name verpflichtet. Haltung, nicht Nonchalance. Was dein Vater tut, ist richtig. Und Madame Delahaye arbeitet gut
    – Mutter; Vater küßte sie, wenn er nach Hause kam, sanft auf die Wange, so daß manchmal Röte in ihre gebräunten Wangen stieg und sie den Kopf neigte. Dann sah sie mit seltsam verjüngten Augen auf von den Kunstbüchern, die sie am liebsten las, ihr zu einem straffen Knoten geschlungenes Haar wirkte weniger streng, für einen Moment mochten alle Dinge an dem Platz sein, der ihnen zukam, sogar die Einmachgläser, die zu Hunderten im Keller des Hauses schlummerten. Ich hätte sie schon lange nach Jahreszahlen und Früchten ordnen sollen, sie waren die Hinterlassenschaft einer Kriegswitwe, die gottesfürchtig gewesen war und sparsam. Alle haben ihre Aufgabe im Haus erledigt, nur du immer noch nicht, erinnerte mich Mutter mit vorwurfsvoll zusammengezogenen Brauen, wenn Vater am Abendbrottisch mit vor Anstrengung verzogenem Gesicht eines der Gläser öffnete. Du bist wirklich eine vorzügliche Hausfrau, sagte er, der unter dem Deckel fleischweiß zusammengepreßte Gummi gab endlich nach, das Glas öffnetesich mit einem schmatzenden Laut. Man kommt nach Hause und alles ist an seinem Platz, akkurat und wie es sich gehört, die Fenster bemerkt man auf den ersten Blick gar nicht, so klar sind sie. Was gibt’s Neues bei Monsieur Hoffmann? wandte er sich dann an Oda und mich. Monsieur Hoffmann war unser Lehrer, und die Privatschule, die wir besuchten, lag im selben Viertel wie die Maßschneiderei, in der Jeanne bei Madame Delahaye arbeitete. Da die Schaufensterpuppe auf unnachahmlich alterslose und grazile Art ihre Hand ausstreckte: eine Frau, die soeben einen Eisvogel hatte fliegen

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