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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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bzw. -anzeige vorkommt, gewissermaßen. Genau diesen Film, dieses Botulinustoxin der Quoten, will unser Wiggo aber sehen, und zwar möglichst nach der Tagesschau, wofür er eine der unverschämtesten Begründungen hätte, die man unserem gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Fernsehen zumuten kann. Ja, genau, Bildungsauftrag. Wiggo muß nun dasjenige Produkt benennen, das für ihn am abstoßendsten ist. Exakt derjenige Film, den Wiggo zum Bröckeln findet, wird die höchstmögliche Quotebringen. Eine Art Lackmustest, so sicher wie das geil in der Jugendkultur.
    Wiggo ist ein Ästhet, glaube ich, und zwar einer speziellen Sorte: Er kostet aus, was er tut, auch die Rache; daran hätte er Vergnügen wie an seinen sophistischen Spielchen, von denen er ganz bestimmt auch Ihnen gegenüber nicht lassen kann. (Genau dies, im übrigen, macht ihn nach meiner Überzeugung angreifbar. Er ist da wie gewisse brasilianische Fußballer, die vor lauter schönen Schnörkeln das Runde nicht ins Eckige kriegen.) Zu diesen Spielchen würde zum Beispiel gehören, anläßlich der Verleihung des Förderpreises für Authentisches Philosophieren an ihn mit der tiefsinnigsten, seriösesten Miene der Welt dem versammelten Philosophenkongreß willkürlich zusammengebackenen Pseudo-Hegel in der Dankesrede zu zitieren und sich mit diesem Stück authentischer Philosophie, zu dem die Jurymitglieder bedeutungsschwer nicken, für das authentische Schachern während der Entscheidungsfindung zu rächen. Daß er zu solchen Sachen neigt, ist mir ziemlich schnell aufgefallen
    [ DOROTHEA R. {...}] das mit meiner Freundin Nele, ziemlich typisch für ihn. Er kannte sie überhaupt nicht. Höchstens daß ich sie mal erwähnt habe oder so. Er sah sie an diesem Abend zum ersten Mal. Nele ist nicht auf den Mund gefallen – was man bei meinem Bruder übrigens auch nicht sein sollte, sonst redet er einen in Grund und Boden mit seiner Logorrhö. Man muß ihn dann einfach mal unterbrechen, es ist wirklich unfaßbar, ich glaube, er könnte pausenlos reden. Wenn man ihm nicht ins Wort fällt, macht er weiter wie Schwarzenegger. Kennen Sie diesen Film, Terminator, wo zum Schluß nur noch ein paar Lämpchen blinken in seiner Elektrik, so geschafft ist er schon, aber er kraucht immer noch weiter? Das ist Wiggobeim Reden. Es muß was Angeborenes sein, irgendwas Physiologisches wie Atmen oder Essen. Jedenfalls hatte ich Nele schon einiges über ihn erzählt, eben weil sie auch gerne redet und ich mir gedacht habe, daß man da vielleicht mal was versuchen könnte. Aber sie hat ziemlich schnell mitgekriegt, daß ich so meine Hintergedanken hatte, sie und ihn zusammen einzuladen. Er übrigens auch. Er ist sehr mißtrauisch und denkt immer, alle sind gegen ihn und wollen ihm irgendwie am Zeug flicken, haben auf jeden Fall aber nichts Besseres zu tun, als sich pausenlos mit ihm zu beschäftigen. Nele ist Psychiaterin, wir kennen uns schon lange, waren im Studium in derselben Seminargruppe. Wiggo mag Ärztinnen nicht besonders. Er hat auch versucht, mich von meiner Berufswahl abzubringen, was ich ihm, aber das nur nebenbei, sehr übelgenommen habe. Ich meine, was denkt er sich. Er muß da irgendeinen Komplex haben. Von wegen Halbgötter in Weiß und so. Speziell mag er keine Psychiaterinnen, weil für die, sagt er, grundsätzlich alle was an der Waffel haben und sie die Menschheit in Schizophrene und Paranoiker einteilen mit noch ein paar Schattierungen dazwischen, und die Frage nicht ist, ob, sondern wann er ausbricht, der Irrsinn. Er schaute Nele an, vielleicht zwanzig Sekunden lang. Mir wurde richtig angst und bange. Haben Sie das schon mal versucht, einen fremden Menschen zwanzig Sekunden lang unverwandt anzustarren, noch dazu ohne ein Wort zu sprechen? Nele wurde abwechselnd rot und blaß. Ich versuchte irgendwas zu tun, was ihr helfen könnte, aber er ließ sich nicht abbringen. Sie übrigens auch nicht. Nach ungefähr zehn Sekunden reckte sie ihr Kinn und starrte zurück. Ich beschloß, als ich das sah, mich schleunigst davonzumachen und nichts mehr zu unternehmen, was die beiden ablenken könnte. Den Dingen ihren Lauf zu lassen, wie man so sagt. Ich dachte, da haben sich zwei gesucht und gefunden. Volltreffer, meinBruder, der in bezug auf Frauen alles mögliche denkt und erwartet, aber nicht, daß sie ihm Paroli bieten könnten. Ich wußte, daß ihm Neles Reaktion imponierte. Und dann machte er den Mund auf. Ich dachte im Weggehen, als ich das hörte, das darf ja

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