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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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lassen und in einer einzigen, atemlosen Sekunde verwandelt worden war, ging ich hin; in Wahrheit natürlich, um Jeanne wiederzusehen. Der Tod kommt, und wir sind nackt, stand auf dem Stück Papier, das ihr aus der Tasche gefallen war, am Tag, als sie an der Kinokasse vor mir gewartet und jedesmal, wenn der Bursche mit dem lakritzschwarzen Haar, Lederjacke und Insekten-Sonnenbrille auf seiner Vespa vorübergebraust war, nach Kleingeld gesucht hatte. Unter ihrem Sommerkleid zeichnete sich ihr Körper mit all seinen Rundungen ab, ich mußte wegsehen, Antoine war errötet, als er ihr die Karte reichte, die von seinem Großvater an der Saaltür abgerissen werden würde. Antoine, fand Oda, las zu viele Bücher. Bücher, in denen für ihren Geschmack zuviel von Liebe die Rede war und von bewundernswert schönen Frauen mit Händen, die in der Luft langsame, zärtliche Zeichnungen vollendeten. Aber keine von ihnen, soweit Antoine es mir erzählt hatte, besaß Jeannes üppiges blondes Haar mit der blauen Strähne darin
    – Quitten, 1966, Jeanne kniete sich hin, um den Stoff meiner Anzughose festzustecken, Schattenmorellen, 1970, Williams- Christ-Birnen, ohne Jahreszahl. Gerüche nach konservierter Zeit, das Flirren der Fruchtfliegen im Sonnenlicht, Pflichten, Mutter, wie sie Tennis spielte mit der Frau desHandelskammervorsitzenden, Vater saß am Spielfeldrand, die Bügelfalten in den weißen Hosen verliefen gerade wie Linealkanten. Ich stand vor Jeanne auf einem Stuhl und hielt die Arme leicht ausgestreckt, die Augen halb geschlossen, um dem Pochen meines Herzens zu entgehen, der Stille im Raum, die Jeannes Arbeiten vertiefte. Wir waren allein. Madame Delahaye besuchte Madame de Pompadour, eine unnachgiebig anspruchsvolle Stammkundin. Jeanne hatte sie so genannt, zugleich spöttisch und anerkennend. Sie steckte das Hemd ab, ihre Fingerspitzen berührten die nackte Haut meines Oberkörpers, irgendwann danach hatte ich ausatmen müssen. Die Scheren, Zwirnrollen, glattgegriffenen Holzellen, Bänder verrieten mir nicht, wie alt sie war, wie die Dinge oder Eigenschaften aussahen, mit denen man sie beeindrucken konnte. Stoffe, Schneiderkreide, altmodisch klobige Bügeleisen, Nadelpilze, am Arm zu tragen, dämpften nicht meine Eifersucht auf den Kerl mit der Vespa und der Insekten-Sonnenbrille. Schnittmuster und Puppen schienen über mich zu lächeln, wenn ich nach Jeannes Haar schielte, von dem sich Strähnen gelöst hatten, die in einen träumerischen Sog zu mir hin gerieten, wenn sie mir so nahe kam, daß ich sie atmen spürte. Ich sah ihren leicht geöffneten Mund mit den hagebuttenroten Lippen, die Wölbung der cremehellen Brüste, wenn sie sich vorbeugte; die Puppen und Stoffballen besaßen nicht genug Kraft, meinen Blick zu halten und zu verhindern, was mir selbst bei Antoines nackten Hochglanz-Mädchen nicht passierte. Jeanne stand auf, sagte nichts. Ihre Finger glitten durch den weichen weißen Hemdenstoff, der sich immer enger an meine Haut schmiegte, je näher die Abstecknadeln den Achseln kamen. Sie trug einen Ring mit einem Herz aus rotem Granat. Ihre Augen erinnerten mich an die Augen von Frauenmasken aus ägyptischen Königsgräbern, tiefenlos und klar konturiert wie deren weißes Email mitdem farbigen Stein als Pupille, der meist herausgefallen war. Mir taten die Schultern weh. Ich ließ die Arme sinken, schob mir eine Nadel ins Fleisch, riß den Arm wieder hoch, Jeanne sah mich erschrocken und vorwurfsvoll an, begriff, öffnete das Hemd und drückte ihre Lippen auf die schon blutende Stelle unter der Achsel
    – mehr ist nicht passiert? Ich meine ... Antoine schirmte die Augen gegen die Sonne, die Bucht war leer. – Nein. Sie hat mir ein Pflaster aufgeklebt. Und mich gefragt, ob ich schon lange hier wohne. Wie es in der Schule geht. Nächste Woche kann ich mir alles abholen. Antoine kniff die Augen zusammen und verfolgte mit kritischem Blick den flachen Stein, der über die Wellen hüpfte: Hast du schon einmal mit einem Mädchen geschlafen? Ich versuchte meiner Stimme einen festen Klang zu geben: Klar. Zuhause in Deutschland. Das war gelogen, ich holte weit aus, um mein Erröten zu verbergen, schleuderte meinen Stein dem Antoines hinterher: Sieben, acht, neun. Du bist dran
    – noch was? fragte Jeanne eine Woche später, als ich die Sachen anprobiert hatte und im Atelierraum unschlüssig vor dem Spiegel stehenblieb. Die Rechnung hat deine Mutter schon beglichen. Madame Delahaye war mittagessen gegangen. – Sie

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