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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Vorwahl, lassen Sie sich nicht von einem Besetztzeichen entmutigen, nur im Notruf anläuten, nicht zu den Zeiten des Mondscheintarifs! – Babysein neu erleben. Sicher im Schoß einer erfahrenen und liebevollen Mami liegen und völlig wehr- und hilflos wie ein Säugling betreut und erzogen werden, das ist mein größter Wunsch. Tel. – Hörerkreis Pathologie, Sectio Zebrapenis, c. t., ich sollte lieber etwas lesen, anstatt mich durch diesen Brei zu zappen, oder einen Brief zu schreiben versuchen, per Hand mit Tinte auf Papier, ich hasse E-Mails, die Leute können sich überhaupt nicht mehr ausdrücken, einen richtigen Brief schreiben, wie wunderbar sind die Kantschen Briefe, die seiner Adressaten ebenso, ein herrliches, reiches, astknorriges Deutsch, ein Deutsch wie ein alter Apfelbaum, ein Deutsch für einen Stamm wilder Bienen, für Spechte und Riesen-Baumpilze, aber das will niemand mehr, sie wollen kein schönes Deutsch mehr, ja kein Humanismus, denn der ist tiefdeutsch, wir aber wollen global denken, was soll das eigentlich heißen, diese Worthülse, diese Sprach-Spreu, Herkunft ist überall, nur die Deutschen wollen sie leugnen, kein auch nureinigermaßen gebildeter Franzose würde es sich verbieten lassen, seine Sprache zu gebrauchen und sie zu pflegen, schon gar kein Amerikaner, Joe Smith aus Texas singt voller Inbrunst God bless America und legt erzpathetisch sich die Hand aufs Herz dabei, wissen die Deutschen überhaupt, was sie anbeten, wenn sie Amerika anbeten, genau das nämlich, was sie hierzulande verabscheuen, wie ich diese heuchlerischen Selbstauspeitscher hasse; einen richtigen Brief; aber an wen
    [ PATRICK G. {...}] wir wußten nicht, was wir davon halten sollten, er tobte wie ein Irrer, fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, ich dachte: Könnte sein, daß er gleich vom Schlag getroffen wird. Er schrie was von die Dinge neu denken, radikal, alles müsse überprüft, alles von Grund auf erneuert werden. Die Kunst ist müde, schrie er (wir waren es auch, nebenbei gesagt), Musik, Literatur, Malerei, alles! Die Menschen sind müde (ich nickte zustimmend), Christentum und Hellas: Wer will, daß sich etwas ändert, muß hier ansetzen, radikal, schrie Mauritz. Das heißt: Verbrennt die Bibel, schlagt Christus ein zweites Mal ans Kreuz, diesmal für immer, neue Religion, neue Märtyrer, neue Helden, neue Geschichten, weg mit dem herkömmlichen Orchester aus den Konzertsälen, die ernste Musik ist müde und liegt auf dem Sterbebett seit den Zwölftönern, wir brauchen einen radikalen Neuanfang, wir brauchen eine neue Oper (ich glaube, niemand von uns, die wir auf Dorotheas Polstermöbeln saßen, hatte etwas dagegen einzuwenden); neue Oper heißt: DJs beschallen die Mailänder Scala! (Gibt’s das nicht schon? dachte ich.) Geigen, Violoncelli, Klarinetten, Klaviere, alles auf den Müll, neues Instrumentarium! Alles Alte muß weggeworfen werden, schrie Mauritz, er schüttelte die Fäuste, war hochrot und hatte Schreiflecken im Gesicht. Befreien wir uns von der Geschichte! Was wirbrauchen, ist ... eine NEUE RELIGION! schrie er, und da fand ich doch, daß es an der Zeit war, etwas zu erwidern: Wenn du uns jetzt sagst, daß du der neue Christus sein wirst, falle ich vor Lachen vom Stuhl, – Die Bienen, zischte er da, griff mir an den Hemdkragen und stieß seinen Zeigefinger dorthin, wo herkömmlicherweise der Verstand sitzt, ich schloß reflexartig die Augen, ich wußte ja nicht, was er vorhatte, und als ich sie wieder öffnete und die Hände hob, ich lasse nämlich nur ungern an mir rütteln, sah ich ein großes, wutflackerndes Auge vor mir, blutunterlaufen und nicht ganz frei von Irrsinn, wie mir schien. Die Bienen! brüllte er. Verlassen! Den! Bienenstock! Wenn ihre Aufgabe! Erfüllt ist! Sie richten den Bau ein, füttern den Nachwuchs, führen den Bau zu höchstmöglicher Perfektion – und verlassen ihn, um, als Volk, woanders von vorn zu beginnen! Damit vermeiden sie die Müdigkeit, das Erschlaffen (er hatte mich jetzt losgelassen), die Degeneration und De-ka-denz! Kapierst du das! So! Müssen! Wir es auch! Machen!
    – Zeit, Zeit, ich wollte sie nicht mehr anerkennen, das ist lächerlich, ich weiß es, aber so viele Dinge sind lächerlich, wenn man will, kann man die ganze Welt lächerlich finden, ich stellte mir absurde Fragen, wie lange ich schon lebte, wie lange mir mein Leben und das der Menschen um mich herum als normal erschienen war, wie es sein konnte, daß die Zeit unmerklich an mir

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