Der Eisvogel - Roman
vorüberglitt, als unterliefe sie mich gleichsam, als wäre ich ihr nicht mehr unterworfen, und desto unmerklicher, heimtückischer und schneller glitt sie, je einförmiger die Tage waren, je mehr einer dem anderen glich. Wenn ich durch die Stadt ging, sah ich mich selbst und auch die Menschen um mich herum von außen, als sähe ich einen Film an, in dem ich die Rolle des Beobachters spielte, und ich hatte das Gefühl,als gehorchte niemand sich selbst, sondern alle einem Zwang, einer unbekannten Kraft, verborgen, aber spürbar – was war das? woher kam das? ich durchstreifte die Straßen, suchte ihr wahres Gesicht, wollte es sehen, fand es nicht, schlief mit ihr, die ich die Füchsin nannte, berührte ihren Körper, formte ihn unter meinen Händen und wußte, während ich sie liebte, daß es so nie wieder sein würde, niemals mehr, niemals mehr würde unser beider Körper so wie in diesem Moment der von abgerissenen Lauten, Seufzern und unendlich behutsamen Berührungen sein, erfüllt vom Augenblick und einmal am Ziel einer ewig wehen Sehnsucht
N achtruhe, Herr Ritter, waren Sie schon im Bad, kann ich das Licht ausmachen? Brauchen Sie noch etwas, eine Schlaftablette, – Wenn Sie mir eine herlegen könnten, danke
– Tunis, das Licht von Tunis; immer ist es einfach, immer erinnert man sich an das Licht. Ich liege wach in der Nacht, gefangen von Stimmen, die ich einst hörte, gefangen von den farbigen Theatern der Erinnerung. Das Licht in Tunis an einem Nachmittag, langsam wandernde Schatten auf den Würfelhäusern der Kasbah, Überhelligkeit, wie von Schnee, auf den man zu lange sah; Menschen, die sich wie in einem Stummfilm durch die Straßen bewegten, Frauen mit schwarzen Djellabas und Männer in kreidigweißen Burnussen; der Poet im Café mit der eingravierten, zersprungenen Blume in der Glasscheibe der Eingangstür; seine Arme, die sich im Rhythmus der Verse hoben und senkten; Worte, die ich nicht verstand, die aber voller Gerüche waren. Kaffee, arabisch, mit Feueradern, ein Segel, die Kontur scharf in die rote Sonnenscheibe geschnitten
– nachts kommen sie wieder, die Dinge der Kindheit, dasHaus meiner Großeltern im Alten Land, ich sehe meine Schwestern und mich im Garten spielen oder dem Großvater bei der Apfelernte, beim Mosten helfen; die Pfauenaugen, die auf dem Dachboden überwinterten, totenstarr und mit zerfransten Flügeln. Ich weiß nicht, wie ich aus der Zeit geglitten und unmerklich allem fremd geworden war, was meine Eltern und meine Schwestern für wichtig hielten. Vielleicht war es, als Vater mir gesagt hatte, damals in London: Ein Philosoph willst du sein, wovon gedenkst du da zu leben, vom Taxifahren? Tellerwaschen? Von der Barmherzigkeit einer Frau, die doof genug ist, dich zu lieben und zu heiraten? Ich glaube nicht, daß du dich dafür eignest. Hör zu, Wiggo. Du bist mein Sohn, ich habe dich doch nicht dafür auf Privatschulen geschickt. Im übrigen war ich dir ziemlich ähnlich. Was glaubst du, woher du’s hast? Aber das einzige, was den Leuten wirklich hilft, ist Geld. Geld ist verwandeltes Leben. Mehre ihr Geld, und du bist ihr größter Wohltäter. Mißachte und entwerte es, und du bist ihr größter Feind, – Ich will nicht bei euch anfangen. Im Gegensatz zu euch sehe ich das Leben nicht als eine Abfolge von Geschäften, – Wenn du wüßtest, wie romantisch du bist. Oda ist viel vernünftiger, – Ihr handelt mit der Angst, – Um sie erträglicher zu machen, mein Sohn. Und falls du jetzt gern etwas, wie ich deinem Gesichtsausdruck zu entnehmen glaube, über deine Mutter und mich sagen willst – überleg dir deine Worte
[ PATRICK G. {...}] ach, wissen Sie, sagte dieser Kerl zu mir, sagte: Gestatten: Goll, beugte sich heran, schwenkte sein Cognacglas, daß der edle Tropfen fast herausschwappte. Ich gehöre auch zu diesen Leuten, die alles auf einen Punkt bringen wollen ... oder besser: müssen. Nachrichtensprecher, Redakteure. Nachricht ist, was in die Zeitung paßt. Soll ich Ihnen sagen,was unsere Kultur ausmacht? Die Oblate, das Geldstück und die CD-ROM. Wir sind eine Kultur, in der die Scheibe herrschend ist. Und die Mattscheibe sowieso. Er lachte kurz und haßerfüllt, warf sich Cracker in den weit aufgesperrten Mund. Ich mußte an ein gähnendes Nilpferd denken. Dorothea unterhielt sich mit Oda und einigen von Odas Kollegen, die alle Augenblicke ihre Handys aus der Tasche zogen und aus der Small-talk-Zone knickten, um in einer vorgebeugten, an Leibschmerzen erinnernden
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