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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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das Wetter spielt mit, jeder Epoche das Wetter, das sie verdient – gab es nicht bei unseren Großeltern noch sibirische Winter und Saharasommer, alles säuberlich voneinander getrennt, vier voneinander scharf unterschiedene Jahreszeiten? Bitte schön, bei uns ist alles Demokratie, sogar das Wetter benimmt sich wie das Produkt einer Schlichtungskommission. Zeit, in der, für mein Gefühl, der Lebensstoff plötzlich in direkteren Verfügungen aufzutreten und reiner geworden zu seinschien, die Dinge wurden kühler und dadurch auf Eiskristallart schön. Wir können uns kaum noch bewegen; aber wir befinden uns im Zustand des Falls, alles ist freies Flottieren, alles stürzt mit uns, so daß wir unseren Verrichtungen nachgehen können, als wäre nichts geschehen, how can you sleep at night, der Fall geschieht nicht nach unten wie der einer Puppe, die ein kleines Mädchen aus den Händen verliert, wir fallen auf den Horizont zu, how can you sleep at night, meine Stirn ist heiß, ich spüre, wie das Fieber durch meinen Körper kriecht, in den Adern langsam ausschwärmt. Das ist nichts Seltenes nach Operationen, hat die Schwester gesagt
    – sie ist nun mal Vaters neue Frau, mein Gott, Wiggo, solche Dinge passieren. Es ist ihr dreißigster Geburtstag, und sie haben dich eingeladen. Spiel doch jetzt nicht die beleidigte Leberwurst. Du mußt doch nicht mit ihr zusammenleben
    – Jeanne, Judith, Schüchternheit und Skrupel, fortgesetzte Annäherungsversuche, absurd gemischt aus Brutalität und Zärtlichkeit, verschämte, linkische, irritierende Erinnerungen daran, daß ich existierte und die sie wahrscheinlich als aufdringlich empfand, ich war entgleist durch Berlin getrieben, dann der Brief: kurz, bestimmt trotz allem Verständnis, aller Behutsamkeit, unzweideutig: Nein
    [ PATRICK G. {...}] Ansgar, Odas Mann, enchanté (er sagte wirklich: enchanté), und Sie sind der Freund von Dorothea, nicht. Und was machen Sie so, wenn Sie nicht auf Partys rumstehen? Ach ja, Sie waren doch der Schauspieler, damit liege ich doch richtig? Ich glaube, ich hob ein wenig die Augenbraue. Dieser Mittvierziger mit beginnender Glatze, schlaffen margarinegelben Händen, schwarzen Haarbüscheln darauf, Manschettenhemd und mehreren Ringen an den Fingern war nun schon der zweite an diesem Abend, der über mich falschinformiert war. Ehe ich etwas sagen konnte, riß Ansgar den Mund auf und schob einen Zahnstocher zwischen die Zähne. Schon ’nen Anruf von Spielberg gehabt? Wuhaha. Dann drehte er sich zu Wiggo um, dem die Party sichtlich keinen Spaß machte. (Er kam mir im Haus seines Vaters immer fremder vor als ich mir vorkam, vielleicht lag es daran, daß ich dort wesentlich häufiger zu Gast war als er.) Ansgar sagte: Es geht doch nichts über Filme aus dem Land deines Hasses, was, Wiggo, stimmst du mir zu? Aber du gehst wahrscheinlich gar nicht ins Kino. Dieses Opium fürs Volk. Was verdient man denn so als Schauspieler, wenn die Frage gestattet ist? (Wissen Sie, Herr Verteidiger, ich hatte auf einmal keine Lust mehr, den Irrtum mit dem Schauspieler richtigzustellen. Das geht einem manchmal so. Eben noch verspürt man das dringende Bedürfnis, die anderen über sich aufzuklären, man kann es gar nicht erwarten, endlich an die Reihe zu kommen und die Verzerrung und die Lüge aus der Welt zu schaffen, man platzt beinahe – und dann ist die Luft raus, einfach so. Plötzlich ist einem aufgegangen, wie klein man ist, gemessen an kosmischen Maßstäben. Laß sie doch, winkt man innerlich ab. Weil einem eingefallen ist, daß der Regenwald jährlich auf einem Gebiet von der Größe Frankreichs abgeholzt wird. Oder man denkt: Mein Gott, Tschernobyl. Die letzten Arbeitslosenzahlen aus Nürnberg. Schmelzende Polkappen, Anstieg der Weltmeere. Holland, überschwemmte Deiche. Nie wieder Holzklompen, Tulpenfelder bis zum Horizont und Meisjes, die vor mühlsteingroßen Käselaiben lächeln. Nie wieder holländische Entertainer. Und was, frage ich Sie, spielt es dann noch für eine Rolle, ob man wirklich Schauspieler oder bloß Produktionsassistent ist, ob man vor oder hinter der Kamera steht? Es war plötzlich alles so fern, ich dachte mir, daß Dorothea das mal korrigieren könnte, bei Gelegenheit und im Familienkreis.) Ansgarwartete, ich sagte: Gute Rollen. Ein Schauspieler, der wirklich ein Schauspieler ist, verdient nichts so sehr wie gute Rollen. Er war überrascht, denn ich setzte mein artigstes Lächeln zu dieser Antwort auf. Die anderen wechselten Blicke.

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