Der Eisvogel - Roman
du hier redest, ich, also, was wäre, wenn ich zur Polizei gehen und dich anzeigen würde? – Das wirst du nicht tun, das glaube ich nicht, – Was macht dich so sicher, immerhin hast du mir erzählt, daß ihr den Krieg wollt, womöglich Terroranschläge plant, glaubst du, ich will das, ich will keinen Krieg, – Dann willst du, daß sich nichts ändert? – Wieso braucht es Krieg, um etwas zu ändern, du verknüpfst immer Veränderung mit Krieg, hör mir mit deinem Gerede auf, mein Großvater hat mir vom Krieg erzählt, ich glaube, du weißt gar nicht, wovon du sprichst, was du hier eigentlich unterstützt, – Doch, das weiß ich sehr genau, und du weißt ganz genau, daß ich recht habe, es gibt keine Veränderung ohne Zwang, und was wir jetzt haben, ist ein Herumdoktern an Symptomen, aber keine wirkliche Therapie, das geht nicht an die Wurzel, das bessert nichts grundsätzlich
[ JOST F. {...}] eines Tages fragte Wiggo, was ich vom Selbstmord hielte und ob ich, als Arzt, einem Patienten die tödliche Spritze geben würde, wenn dieser Patient mich darum bäte und nachweislich bei klarem Verstand sei. Es machte mir angst, wie er mich das fragte. Weniger, was er mich fragte, als vielmehr das Wie. Ich dachte: Das ist ein Selbstmordkandidat.So geht das los. Mit solchen Fragen, die eigentlich verkappte Hilferufe sind, wie uns im Studium beigebracht worden ist. Natürlich war er schlau genug und verstand soviel von Psychologie, die Frage, die ihm – das konnte ich ihm förmlich ansehen – auf der Zunge lag, nicht zu stellen, er wußte, daß ich sofort Verdacht geschöpft hätte (was ich aber trotzdem getan habe): Ob ich nicht ein Mittel wisse, wie man schnell und schmerzlos von eigener Hand sterben könne, wenn möglich: im Schlaf, was übrigens eher typisch für Frauen ist, Männer bevorzugen härtere Methoden. Ich lenkte sofort von diesem Thema ab und gab ihm mit meinem Verhalten eine Antwort, die viele Patienten keine Antwort nennen, da es keine wörtliche ist. Ich sah Wiggo an, daß ich brüsk genug reagiert hatte, um ihn wissen zu lassen, daß er mit mir, was Beihilfe zum Suizid und überhaupt eine wie immer geartete Sterbehilfe betrifft, niemals würde rechnen können. Nach diesem Gespräch beschloß ich, ein Auge auf ihn zu haben, ihn, soweit es mir möglich sein würde, zu beobachten, denn nach meinen Erfahrungen verhält es sich so, daß jemand, der anderen gegenüber solche Gedanken äußert, innerlich einem Selbstmord schon weit entgegengekommen ist
– wir müssen zerstören, Wiggo, um dem Neuen den Weg zu ebnen, alles ist verstopft, dicht, ermattet, ermüdet, die Gesellschaft verkalkt, sieh es dir doch an, was haben wir denn hier, eine Sozietät reformunfähiger Rentner, Vergreisung überall, es müssen die Museen niedergebrannt werden, Wiggo, damit die nachfolgenden Generationen Platz haben und Luft zum Atmen, es muß wieder Unschuld geben und Neubeginn, wir müssen zerstören, um aufbauen zu können, – So ein Schwachsinn, es gibt nichts Neues mehr, – Eben, – Und da wollt ihr das Alte verbrennen, ihr seid doch komplett verrückt, – Sindwir ganz und gar nicht. Mauritz sprach jetzt sehr klar und mit eisiger Ruhe. das eben ist das Neue und wirklich Radikale an unserem Ansatz: daß wir das Alte, das nur noch hemmt, das Leben in Erstarrung hat geraten lassen, vernichten wollen, um dem Neuen Licht und Luft zu schaffen, – Ihr wollt Rembrandt verbrennen, um irgendeinen neumodischen Pfuscher an seine Stelle zu hängen? Wenn das wahr ist, dann –, er schnitt mir das Wort ab: Wenn es notwendig sein sollte, auch dies, dann muß auch der Rembrandt brennen. Die Bienen, Wiggo, verlassen freiwillig den Bau, den sie zur höchstmöglichen Kunstfertigkeit getrieben haben; der Bau, unser Bau, ist das alte Europa mit seinen Schätzen, die aber kein Leben mehr zeugen, sondern das entstehende Leben wie ein kümmerliches Pflänzchen verdorren lassen, ein Bau, dessen Leben sich in Sterben verkehrt hat, und das Problem ist, daß den Menschen, die ihn bewohnen, die Einsicht in die Notwendigkeit fehlt, es zu tun wie die Bienen und den Bau freiwillig aufzugeben; niemand tut etwas freiwillig, wenn ich etwas gelernt habe in meinem Leben, so ist es dies: daß der einzig wirklich wirksame Antrieb des menschlichen Handelns der Zwang ist, der existentielle Zwang, sich zu verändern oder zugrunde zu gehen
– manchmal: Geruch nach Roßkastanienblüte, frisch gedruckten Büchern; zwei Spatzen, die sich um einen Keks stritten,
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