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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Stellung mit schiefen Gesichtern, baumelnde Krawatten bändigend, um Verstehen zu kämpfen. Das mußte ich auch tun, denn wenn Herr Goll das Wort an mich richtete, prasselten die Cracker in seinem Mund nicht wenig, ich mußte dann auch etwas aufpassen, Essensreste auf meiner Kleidung machen mich sofort nervös, Christentum, Kapitalismus und TV (er sprach Tie Wieh, ich trat einen Schritt zurück, Sie an meiner Stelle, Herr Verteidiger, hätten es auch getan), alles gar nicht so verschieden. Big Entertainment, you know, haha. Alles hat Platz auf einer Münze, nicht wahr?
    Ich nahm mir etwas Hummer und blickte nach draußen. Im Garten brannten Lampionketten über den weißgedeckten Tischen. Herr Goll war ziemlich dick, er polkte jetzt eine Auster aus dem Eis, knackte die Schale und schlürfte sie genießerisch leer. Alles ist, was es ist. Diese Auster – ganz einfach eine Auster. Was soll man da für Funken herausschlagen. Wie machen Sie das, wenn Sie spielen? Sie sind doch der Schauspieler hier. Stefan deutete das an ... Na, ich mache bloß Nachrichten.
    Ich sagte, eine Rolle als Auster sei mir bisher noch nicht angeboten worden, denn ich sei bei einer Comedy-Sendung beschäftigt, im Hintergrund, wenn er verstehe. Ah so. Jaja. She loves you yeah yeah yeah, dudelte es, Goll zog ein papageienbuntes Handy hervor, wedelte damit vor meinem Gesichtherum. Das Wappentier unserer Zunft, haha. Die Schippe muß erst noch erfunden werden, auf die ich mich nicht nehmen kann. Kurzer Break, sorry
    – dann hatte ich Judith zu lieben begonnen, ich, der Philosoph, hatte bei den Medizinern hospitiert, um zu erfahren, was diese Fakultät vom Menschen dachte; ich sehe die zarte Luft eines Junitags, an dem der Duft von Holunderblüten durch die geöffneten Fenster des Hörsaals gekommen war und Sonnenrauch auf den alten Pulten gelegen hatte, ein Tag voller Wolkenströmungen und pastellener Helligkeit, die bezwingende Kraft der ersten Liebe, die stille Abruptheit, mit der die Auslöschung dessen beginnt, was vertraut war, der Blick, der anders ansieht plötzlich, die Bewegung einer Hand, die nicht mehr gleichgültig ist. Judith war in den Hörsaal gekommen, hatte sich das Haar zurückgestrichen, bat sie um Verzeihung mit dieser Geste, denn die Vorlesung hatte schon begonnen; war die Treppe zwischen den Sitzsektoren zu einem freien Platz hinabgestiegen, es war der Platz neben meinem, ich sagte kein Wort
    [ PATRICK G. {...}] sehen Sie, sagte der dicke Kerl zu mir, da gibt es diesen Spruch: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Ich frage mich: Wieso eigentlich nicht? Glauben Sie, dieser Gaul steht kostenlos bei mir im Stall herum? Wenn ich überhaupt einen habe, ich meine, wer hat heutzutage schon einen Pferdestall, nicht wahr. Dann müßte ich ja noch einen bauen lassen. Und was gäbe das erst für Kosten. Oder? Nicht? Sehen Sie, hehe. Der Gaul frißt ja auch seinen Hafer, und seit wann wächst der auf Bäumen. Und Krankheiten kann das Vieh ja auch haben, nicht wahr. Wissen Sie, das würde ich sogar vermuten. Sie nicht? Ich meine, was gäb’ssonst für einen Grund, daß mir ein Wildfremder ’nen Gaul schenkt. Der lacht sich eins, tut verteufelt human und spart ganz einfach den Tierarzt. Schlägt mir auf die Schulter, brüllt mir Mein liieber Goll ins Ohr, dieses herrliche Roß hier sei dein, ziehe hin in Frieden! Kosten Sie mal von dieser Mousse hier, ganz köstlich. Und was spielen Sie so? Jugendliche Liebhaber? Mit dem Wallehaar, das Sie haben. Die Weiber stehen ja drauf, neuerdings. Möchte mal wissen, wieso. Man hört ja immer von diesen Groupies bei Schauspielern. Sagen Sie mal, ist das wirklich so? Nicht schlecht, die Mousse, was? Lassen Sie sich vom alten Goll ruhig was sagen. Außerdem interessiert mich, wie einer schenkt. Ich meine, das ist doch nicht sauber, so ’n Deal. Jemandem ’n Stück Mist schenken, und dem klebt’s dann an der Backe. So einer kann doch nicht mein Freund sein. Oder? Nicht? Sehen Sie. Hehe
    – Zeit, etwas wollen und es bekommen oder nicht bekommen, darauf schien sich alles zuzuspitzen, Jeanne, Judith, einst hatte ich eine Frau geliebt; aber sie hatte mich nicht wiedergeliebt, Zeit, in der die Sommer herbstlicher und die Winter frühlingshafter wurden, bis das gesamte Jahr eine unentschieden geformte Masse aus mittleren Temperaturen war, Übergangsperiode immerfort. Finde dich ab mit den Verhältnissen, hatte Oda gesagt. Ja, hatte ich geantwortet, die Verhältnisse sind, wie sie sind, sogar

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