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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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ich ihn nicht wiedererkannte, beherrschte sich mühsam. Na gut, nun hast du mich gesehen in meiner Alltagsverkleidung. Es ist mir nicht recht, du hast es gemerkt, und ich habe gemerkt, daß du es gemerkt hast. Aber es ist nicht mehr zu ändern. Schwamm drüber! Er lächelte grob und stieß mir in einer Art gewollter Lustigkeit in die Seite. Das sollte wohl eine freundschaftliche, verzeihende Geste sein; mich beruhigte sie ganz und gar nicht, im Gegenteil. Es ist ohnehin mehr eine, na, nennen wir’s: Tarnung, als wirklich ein Job zum Geldverdienen, und ich werde ihn nicht mehr lange machen. – Wiggo, ist mit dir alles in Ordnung? Ich war stehengeblieben und hatte ihn am Ärmel gefaßt. Er machte sich los, runzelte die Stirn, hatte sich jetzt gefangen. – Wieso fragst du? Seine Stimme klang betont kühl. Was soll mit mir los sein? Natürlich ist alles in Ordnung. Du kennst mich ja, ich brause nun mal leicht auf, und die Alte hat mich wirklich aufgeregt. Schon vorbei. Kein Grund zur Besorgnis. Er atmete einigemal tief ein und aus, wahrscheinlich war er der frischen Luft wegen nach oben gegangen. Ein Klinikgelände ist in der Regel komplett untertunnelt, ein System von miteinander kommunizierenden Kellergängen, die den Transport von Kranken oder Labormaterial unabhängig von der Witterung und ungestört von neugierigen Blicken erlauben. Üblicherweise wird dieses System für solche Botengänge benutzt. Warte einen Moment. Wiggonickte zum Tablett. – Ich muß erst diese Teegläser hier in die Chirurgische Klinik bringen. Wenn du willst, komm mit ins Zoologische Institut, das wird dich interessieren.
    Es war ein kleines, schon etwas baufälliges Haus am Ende einer Seitenstraße, in der sich die vorklinischen Institute der medizinischen Fakultät, der Laborturm der Anorganischen Chemie und ein Rechenzentrum befanden. Die meisten dieser Gebäude waren hell erleuchtet, in den ebenerdig gelegenen Labors sah man weißbekittelte Wissenschaftler ihrer Arbeit nachgehen. Wiggo lief schweigend neben mir, das Gesicht tief im aufgeschlagenen Kragen seines Kittels. Krankenwagen fuhren vorüber, schlingerten im zerfahrenen Schneematsch, ließen ihre Sirenen aufjaulen, bevor sie in die Straße einbogen, in der sich die Notfallambulanz befand. Ich sah Wiggo bei den abrupt die Luft durchstoßenden Tönen immer wieder zusammenzucken. Im Zoologischen Institut waren nur wenige Fenster erleuchtet. Wiggo zog ein Schlüsselbund aus der Kitteltasche und schloß auf. Eine merkwürdige, trockene Stille umgab uns, als wir die Tür geschlossen hatten. Sie war mir vertraut, ich kannte sie aus der Bibliothek des Pathologischen Instituts, die auf mich den Eindruck einer mittlerweile verstaubten, hölzernen Schneckenspindel machte, aus dem Dachgebälk des alten Gebäudes gehöhlt vom geduldig und zäh raspelnden Schnitzwerkzeug der Jahre; ich hatte dort als Doktorand gern gearbeitet und manches in den Lederfolianten mit verblaßten Frakturschrift-Stempeln auf den elfenbeingelben Titelseiten nachgeschlagen. Dies war eine Stille, in der die Zeit nichts war als sie selbst, pures Vergehen, ohne daß etwas anderes geschah als das Niedersinken von Staub, nicht die Zeit auf den Straßen, die vom Takt der Rush-hours bestimmt wird, von Pendlern und U-Bahnen, die das Blickfeld schraffieren, nicht die Zeit, die mit den Hantierungen während einer Operation vergeht, mit Warten voreiner Tür in einem kahlen Behördenflur, mit dem Lösen von Kreuzworträtseln. Nicht die Zeit, die Tätigkeit ist. Wiggo schaltete das Licht ein. Mir fiel auf, daß hier keine der sonst üblichen Neonlampen brannte. Ein Spinnenleuchter hing von der Decke, Schliffglastüten über den Glühbirnen, fünfziger Jahre. Es war ein rundes Vestibül, ausgelegt mit schwarzen, von Studenten- und Wissenschaftler-Generationen uneben gewetzten Steinplatten, von einem Säulengang umzogen. Hermenartige Büsten standen zwischen den Säulen. Ich erkannte Darwin an dem mächtigen Bart und der skeptisch gerunzelten Stirn unter der Glatze, die glattpoliert wirkte. Vielleicht diente Darwins Kopf als Institutstalisman, ängstliche Prüflinge und unsichere Forscher mochten ihn abergläubisch und hilfesuchend streicheln. Wissenschaftler sind nicht selten weitaus weniger nüchterne Menschen, als man gemeinhin annimmt. An den Wänden hinter den Säulen hingen Schaukästen mit Stammtafeln aus dem Linnéschen Ordnungssystem, Stundenpläne, Institutsmitteilungen. Komm, sagte Wiggo und zupfte mich am Ärmel. Hinter

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