Der Eisvogel - Roman
Darwins Büste führte eine Treppe nach oben, von spärlichem Licht beleuchtet. Die Stufen waren aus Holz, das von unzähligen Schichten Bohnerwachs einen Honigglanz bekommen hatte. Sie knarrten unter den Schritten, als ob sie zu verbotenen Schätzen führten, und waren in der Mitte stark ausgetreten. Oben zweigten Flure strahlig von einer Rotunde ab, die viel kleiner war als das Vestibül unten. Ein Tisch stand in der Mitte, auf dem einige Zeitschriften auslagen. Die Flure dämmerten in schwach grünlichem Licht, das von Vitrinen an den Seiten ausging. Hier, sagte Wiggo. Das ist es, was ich dir zeigen wollte. Ich folgte ihm in einen Flur, den tote Vögel säumten. M I T T E L E U R O P A , stand in Blockbuchstaben auf einer Schrifttafel. Wiggo blieb vor einer Vitrine mit Waldvögeln stehen, starrte schweigend auf die Eulen und Häher. DieArbeitsprobe aus dem Brutschrank römisch zwo, Arbeitsgruppe Schmitt mit Doppel-t, schien er vergessen zu haben. Ich habe mich noch nie für Naturalienkabinette, Dioramen und überhaupt für Naturkundemuseen begeistern können. Ich mag ihn nicht, diesen zu einem Scheinleben aufgeputzten Tod. Ich finde die Vorstellung bedrückend, daß ein Tier sterben mußte, um aus den Prozeduren der Präparatoren als fragwürdige Hülle, bloßer Balg, aufzuerstehen, Objekt in einem großen Stilleben zu werden. Auch bedrückt mich der unverkennbar registrierende Gestus solcher Ausstellungen, denn diese vollständige, aber tote Versammlung der Tiere spricht in ihrem Schweigen davon, daß es draußen, in der von allen Seiten bedrohten Natur, vielleicht kein einziges lebendes Exemplar von ihnen mehr gibt. Wiggo mochte meine Gedanken aus meiner Zurückhaltung herausspüren, schweigend stand er vor einem riesigen Uhu, schien vor ihm zu meditieren oder mit ihm Zwiesprache zu halten. Die gelben Augen des gut halbmeterhohen Tieres reflektierten das Dämmerlicht, die mächtigen Ohrbüschel standen wie lauschend aufgerichtet. Nichts war zu hören als das Geräusch unseres Atmens und das feine Knistern der Leuchtstoffröhren in den Vitrinen. Wiggo war mir in diesem Augenblick so fremd wie noch nie, ich beobachtete ihn, wie er mit halbgeschlossenen Augen die Vögel musterte, die Hände vor den Bauch gelegt. Obwohl ich kaum einen Meter von ihm entfernt stand, schien er mir sehr weit weg zu sein, unberührbar in einer nur ihm gehörenden Welt, in der keine Gesetze aus der anderen Welt galten, in der ich mich befand. Er hatte mir einmal von einem Gärtner erzählt, den er als Jugendlicher in London in den Gewächshäusern von Kew Gardens kennengelernt hatte. Ich versuchte, mich auf den Namen zu besinnen, um eine Bemerkung zu machen, die keinen anderen Sinn hatte, als die Stille zu durchbrechen, die etwasLastendes, Bedrohliches in sich barg. Doch der Name fiel mir nicht ein. Ich fühlte mich nicht sehr wohl zu dieser Stunde auf diesem Flur, und ich wollte Wiggo schon den Vorschlag machen, für ihn die Arbeitsproben aus dem Brutschrank zu holen und seiner Professorin zu bringen, tat aber die Idee sofort als Unsinn ab. Ich wußte ja gar nicht, wo sich dieser Brutschrank befand, und ich wußte ebenfalls nicht, was die Professorin von der sonderbaren Verwandlung des Laborgehilfen Ritter halten würde. Außerdem war mir die Vorstellung unerträglich, auf der Suche nach dem Brutschrank allein durch dieses mir unheimliche, todesstill liegende Institut tappen zu müssen.
Wer sind Sie, was machen Sie hier? unterbrach eine Männerstimme meine Gedanken. Ich fuhr herum und sprang gleichzeitig zurück, so erschrocken war ich, beinahe wäre ich gestürzt. Vorstellungen von klappernden Skeletten und unerlösten Gespenstern, wie sie in englischen Landsitzen spuken, schossen mir durch den Kopf, während ich noch nach Luft schnappte. Wiggo, sah ich, hatte nur rasch aufgesehen, wirkte aber keineswegs so erschrocken wie ich, obwohl auch er (das verriet er mir später) nichts nahen gehört hatte. Wiggo antwortete ruhig: Ich bin Laborgehilfe aus dem Mikrobiologischen Institut, mein Name ist Ritter, und das ist mein Freund Jost Fortner, der mich besucht hat. Ich soll eine Probe aus einem Brutschrank abholen für Frau Professor Schmitt. Der Mann nickte. Ich sah, daß er schon älter war und einen Kittel trug, darunter Anzug und, das ist selten geworden bei Wissenschaftlern, eine Fliege. Sie war gepunktet, was dem Mann, der uns über eine Lesebrille argwöhnisch musterte, etwas Clowneskes, Zauberkünstlerhaftes gab. Sein Haar hob diesen
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