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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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reden, er war es auch, der immer wieder die Polizei ins Spiel brachte und die Tür vom Schlosser aufbrechen lassen wollte: Mensch, Dorothea, der bringt sich um oder hat es vielleicht schon getan, wir müssen was unternehmen! Ich sagte: Glaub ich nicht, daß er das tut, dazu ist er viel zu eitel und narzißtisch. Der macht einen auf Tränendrüse. Wer weiß, was er hat, und warum läßt du ihn nicht einfach in Ruhe, wo er es doch will? Aber nachdem drei Tage vergangen waren, seitdem er den Zettel durchgeschoben hatte, wurde auch ich unruhig. Wir riefen die Polizei, die brach die Tür auf. Die sonst picobello aufgeräumte Wohnung, in der es nie ein Staubkorn gab, kein überflüssiges Möbel, keinen Schmuck, kein Andenkentand, war völlig zugemüllt. Wasserflaschen lagen in der Küche auf dem Boden, Kartoffelschalen und Gemüsereste, die schon faulten, neben dem von Ungeziefer wimmelnden Mülleimer. Überall Brotkrümel, auf dem Herd Töpfe mit stinkenden Suppenresten, auf der Anrichte Zwiebackbruch mit ranzig gewordener Butter. Mir wurde übel, Jost nicht, er ist das von seinen Notarzteinsätzen her gewöhnt. Wiggo lag schlafend auf der Couch im Wohnzimmer, neben sich eine angebrochene Packung Schlaftabletten. Jost konnte ihn wecken. Die Polizisten fragten, ob sie noch gebraucht würden, leuchteten mit ihren Stablampen in die Ecken, tippten an ihre Mützen und gingen. Ich machte die Fenster auf, denn im Zimmer stank es nach kaltem Zigarettenrauch, nach dem in den Tassenbatterien auf dem Tisch angetrockneten Kaffee,dem Erbrochenen auf dem Teppich. Wiggo starrte uns an. Das Licht, das ich eingeschaltet hatte, blendete ihn, er nahm eine Hand hoch, um sich dagegen zu schützen. Jost hielt die Tablettenpackung hoch, rüttelte Wiggo: Wieviel hast du davon genommen und wann, worauf Wiggo keine Antwort gab. Er wedelte mit der Hand in Richtung Tisch und sank zurück auf die Couch. Ich wollte nur schlafen, keine Angst, lallte er. Nur ein bißchen schlafen, ich ... bin entlassen worden. Und ich dachte: Mein Gott, das ist dein Bruder. Dieser verkommene Penner da auf dem Sofa ist dein Bruder, und im nächsten Moment schämte ich mich dieses Gedankens, ich setzte mich neben Jost und nahm Wiggos Hand
    – ein Romantiker sind Sie, ein Feind der Aufklärung! Da kommt es wieder herauf, das deutsche Erbübel, Verworrenheit und Gemüt, das Irrationale der Anschauung, wissen Sie, daß Leute wie Sie es waren, die den Nationalsozialismus ermöglicht haben? Romantiker! Wagner, Dunkelheit und Dunst, deutsche Seele, Blut und Boden und ähnlicher Unsinn! Kommen Sie mir nicht mit diesem Mumpitz, Ritter, Sie ... Sie Kryptofaschist, Sie rechte Natter! schrie Hertwig mit vor Zorn dunkelrotem Kopf und warf die Pfeife in den Aschenbecher, daß der Stiel abbrach. Ich habe es noch im Ohr, wie Jungen zu den Versen Hölderlins in die Kasernen gezogen sind, auch so ein Rauner und Seher, wie ihn die Deutschen lieben, Tiefsinn, pah! Dir ist, Liebes! nicht einer zu viel gefallen, Der Tod fürs Vaterland, – Herr Professor, entgegnete ich mit schneidend scharfer Betonung der Worte, wie immer, wenn ich sehr erregt war. Ich bitte Sie, den Ausdruck Kryptofaschist zurückzunehmen und verlange eine Entschuldigung dafür. Wieder das hohe, irre Lachen: Entschuldigung? Sie? Wer sind Sie? Was sind Sie, um solches fordern zu dürfen, einHilfsassistent an meinem Lehrstuhl, der sich anmaßt, – Nein, nicht anmaßt, Sie vertragen nur keine Kritik, schnitt ich ihm das Wort ab, auch das gehört, im übrigen, zu unserem Thema. Hertwig riß den Mund auf, klappte ihn wieder zu und griff sich an die Krawatte, um sie mit einem Ruck zu lockern. Ich war aufgestanden, auch er stand auf, streckte die Hände aus und kam auf mich zu: Sie, Sie ... wagen es ... Wie können Sie es wagen, keuchte er, ich wich ihm aus und hob die Hand, er blieb vor mir stehen und musterte mich aus verengten Augen – Und was Sie zur Geschichtswissenschaft sagen, Herr Professor, fuhr ich fort, ist nach meiner Ansicht schlicht falsch! Wer, bitte schön, sind die Strukturen ? Existieren sie im luftleeren Raum, als mysteriöse Strahlung? Oder stehen nicht auch dahinter Menschen? Immer nur Menschen, Herr Professor. Immer Pathos, immer ein schlagendes Herz, immer Angst. Und nie: Geometrie, dozierte ich dem zwischen Wut und Verblüffung hin- und herschwankenden Hertwig ins Gesicht. Er ächzte, rang nach Luft. Einer der Assistenten, die unserem Streit schweigend, wie gelähmt, zugehört hatten, packte mich am Arm

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