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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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unterhalten, sagte der weißhaarige Mann mit dem altersfleckigen Gesicht, in dem immer weiße Stoppelinseln standen, in seinem leicht gefärbten Deutsch, vielleicht kam er aus Schlesien oder dem Sudetenland. Hertwig, der seinen besten Studenten kleine Kärtchen aus grünem Büttenpapier mit handgeschriebenerEinladung zu seinen Abendseminaren schickte. Lieber Herr Ritter, hiermit lade ich Sie zum Gespräch in kleinem Kreise im Institut ein. Es wird Ihnen bekannt sein, daß Debütanten das Disputationsthema zu stellen und die spirituelle Dimension der Veranstaltung vermittels einer Bouteille Rotspon zu vertiefen haben, deren Qualität zum Niveau des Diskurses in angemessenem Verhältnis stehen sollte. Ein Imbiß wird bereitgestellt. Es darf geraucht werden. Sollten Sie Pfeife bevorzugen, so bitte ich Sie zu beachten, daß das von Ihnen verwendete Exemplar das des Unterzeichnenden an Größe nicht übertreffen darf. Die Maße können über meine Sekretärin erfragt werden. Hertwig. – Tragen Sie kein gestreiftes Hemd, Herr Ritter, warnte mich die Sekretärin. Er verabscheut gestreifte Hemden. Anzug und Krawatte sind obligatorisch. Nachlässig gekleidete Menschen denken auch nachlässig, sagt er immer, und noch ein Tip: Schneiden Sie sich die Fingernägel kurz; er kann lange Fingernägel bei Männern nicht ausstehen. So was haben Gitarrespieler, Gigolos und Bürohengste, sagt er, und vor allem gitarrespielende Männer sind ihm ein Graus. Zum Disput erschien ich mit Anzug, aber ohne Krawatte, ungeschnittenen Fingernägeln, ich trug ein gestreiftes Hemd, hatte eine Flasche Roten auf den Tisch gestellt, die Hertwig mißtrauisch prüfte, während die Augen seiner Assistenten über mein Hemd, den Anzug und die enorm große Tabakspfeife wanderten, die ich langsam stopfte, innerlich inzwischen weit weniger von meiner Frechheit überzeugt als noch vor Minuten beim Betreten des Instituts und angesichts der entsetzt aufgerissenen Augen der Sekretärin, die Iris schwamm im Weiß wie das Gelbe im Spiegelei, die Lippen öffneten und schlossen sich karpfenhaft; ich stopfte die Pfeife zuende, Hertwig sah mich scharf an, sein Blick glitt zu meiner Pfeife, sein Kinn schob sich angriffslustig vor, ich sagte in die Stille hinein: Das Thema des heutigen Disputs soll Vernunft heißen. Hertwig erhob sich langsam, strich daszurückgekämmte, in Strähnen flammende Haar glatt, kam mit ausgestrecktem Zeigefinger auf mich zu: Sie, Sie ... Sie schräger Vogel! Aber Sie taugen was! Er deutete auf meine Pfeife: Ich wußte es! schrie er plötzlich vergnügt. Ich wußte, daß Sie der Versuchung, eine größere Pfeife als ich zu benutzen, nicht würden widerstehen können! Erste Regel für Debütanten, Herr Ritter – baue nie auf die Doofheit deines Professors! Er rieb sich die Hände, öffnete einen Schrank und zog mit triumphierender Miene ein wahrhaft gewaltiges Exemplar hervor, stopfte es, die Assistenten saßen immer noch wie erstarrt, als ob sie nicht glauben könnten, was sie sahen. Dieses gute Stück bewahre ich immer für Debütanten auf, die glauben, mich hereinlegen zu können, es ist selten, daß so etwas vorkommt, aber es kommt vor, genaugenommen sind Sie der dritte, die anderen beiden haben inzwischen eine Professur in Amsterdam beziehungsweise in Köln, und wie diese beiden auch müssen Sie Ihre Pfeife nun leer rauchen! Kneifen gibt’s nicht, oder Sie sind erledigt, Ritter, hihihi!
    – drei Tage Durchfall danach, drei Tage Schwerstarbeit mit dem Schwuppsauger auf dem Klo halbe Treppe, das nur noch ein erschöpftes Rülpsen von sich gab, wenn ich an der Spülschnur zog
    – tu’s, Wiggo, tu’s, du Feigling, tu’s, tu’s
    [ JOST F. {...}] es mußte etwas Schreckliches passiert sein. Er mußte etwas zu diesem Hertwig gesagt haben, das dieser nicht tolerieren konnte. Die ersten Tage nach der Entlassung machte Wiggo nicht auf, wenn ich klingelte. Der Briefkasten war voll, doch ich wußte, daß Wiggo nicht verreist war. Seitdem er in Berlin lebte, ist Wiggo, soviel ich weiß, nie verreist. Die Wohnung lag dunkel. Ich versuchte, anzurufen, aber er nahm nicht ab. Ich informierte Dorothea, wir klingelten und klopften,fragten die Nachbarn, von denen keiner etwas wußte, und wollten schon die Polizei rufen, als Wiggo einen Zettel unter der Tür durchschob, auf dem Laßt mich in Ruhe stand
    [ DOROTHEA R. {...}] das hat keiner von uns verstanden, aber er sagte ja auch nichts. Jost ging jeden Tag zu Wiggos Wohnung und versuchte, mit ihm zu

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