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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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wahrscheinlich, dachte ich. Außerdem würde sicherlich niemand auf die Idee kommen, dass ein gut gekleideter junger Mann in einem ausländischen Wagen herumfuhr und Scheunen abbrannte.
    »Weiß sie davon?«, fragte ich, wobei ich mit dem Finger zum ersten Stock hinaufwies.
    »Sie hat keine Ahnung. Um die Wahrheit zu sagen, außer Ihnen habe ich bis jetzt niemandem davon erzählt. Es ist keine Geschichte, die man jedem erzählen kann.«
    »Warum mir?«
    Er streckte die Finger der rechten Hand aus und rieb sich die Wangen. Seine Bartstoppeln machten ein kratzendes, trockenes Geräusch. Ein Geräusch, als ob ein Insekt auf einem gespannten dünnen Papier entlangliefe. »Ich dachte, Sie schreiben Romane und interessieren sich vielleicht für menschliche Verhaltensmuster. Außerdem habe ich die Vorstellung, dass Romanschriftsteller, bevor sie über eine Sache urteilen, diese erst einmal in ihrer wahren Form genießen. Genießen ist vielleicht nicht der passende Ausdruck, man könnte auch sagen, dass sie es in seiner wahren Form rezipieren. Deswegen habe ich Ihnen davon erzählt. Aber ich wollte es auch einfach erzählen.«
    Ich nickte. Doch mir war nicht ganz klar, wie ich es in seiner wahren Form rezipieren sollte.
    »Das klingt vielleicht komisch«, er breitete seine Hände aus und legte sie langsam wieder aneinander. »Ich habe das Gefühl, als gäbe es in der Welt eine Menge Scheunen, die alle darauf warten, von mir abgebrannt zu werden. Die einsame Scheune am Meer oder die Scheune mitten im Reisfeld … Es gibt alle möglichen Scheunen. In nur einer Viertelstunde brenne ich sie sauber ab. Es ist, als hätten sie nie existiert. Niemand trauert ihnen nach. Sie … verschwinden einfach. In einem Nu .«
    »Aber Sie urteilen darüber, ob sie überflüssig sind oder nicht.«
    »Nein, ich urteile nicht. Sie warten darauf , abgebrannt zu werden. Ich rezipiere es nur. Verstehen Sie? Ich rezipiere nur, was da ist. Genauso wie der Regen. Es regnet. Flüsse schwellen an. Irgendetwas wird fortgeschwemmt. Urteilt der Regen darüber, was? Sehen Sie, ich habe überhaupt nichts Amoralisches vor. Ich glaube an meine eigene Moral. Sie ist für die menschliche Existenz eine enorm wichtige Kraft. Ohne Moral können die Menschen nicht existieren. Ich glaube, dass die Moral sozusagen das Gleichgewicht der gleichzeitigen Existenz bedeutet.«
    »Gleichzeitige Existenz?«
    »Also, dass ich hier und zugleich dort bin. Ich bin in Tōkyō, und zugleich bin ich in Tunis. Ich bin es, der etwas verdammt, und ich bin es auch, der es zulässt. Das ist es, was ich meine. Dieses Gleichgewicht existiert. Ohne es könnten wir nicht leben. Es ist gleichsam der Halt in allem. Wenn es das nicht gäbe, würden wir uns auflösen und buchstäblich in Einzelteile zerfallen. Nur wenn es da ist, können wir gleichzeitig existieren.«
    »Soll das heißen, dass Ihr Scheunenabbrennen ein moralischer Akt ist?«
    »Genau genommen ist es das nicht. Es ist eine Handlung, um die Moral zu bewahren. Aber ich glaube, man sollte die Moral besser vergessen. Sie ist dabei nicht wesentlich. Was ich sagen möchte, ist, dass es in der Welt viele solcher Scheunen gibt. Ich habe meine Scheunen, Sie haben Ihre Scheunen. Das stimmt wirklich. Ich bin fast überall in der Welt herumgekommen. Ich habe alle möglichen Erfahrungen gemacht. Ich habe mehr als einmal mein Leben aufs Spiel gesetzt. Ich sage das nicht, um anzugeben. Aber hören wir auf damit. Normalerweise bin ich ein schweigsamer Mensch, aber wenn ich Gras rauche, quatsche ich zu viel.«
    Als müsste erst eine Glut in uns abkühlen, verharrten wir einen Moment schweigend. Ich wusste nicht genau, was ich wie hätte sagen sollen. Es war eine Stimmung, als säße man im Zug und betrachtete merkwürdige Landschaften, die eine nach der anderen vorm Fenster auftauchten und wieder verschwanden. Mein Körper war träge und zu keiner exakten Bewegung fähig. Doch ich spürte deutlich die Existenz meines Körpers als Vorstellung. Der Ausdruck »gleichzeitige Existenz« war nicht unpassend. Es gab mein denkendes Ich und das Ich, welches dieses denkende Ich beobachtete. Die Zeit tickte in ganz präzisen Polyrhythmen.
    »Möchten Sie ein Bier?«, fragte ich nach einer Weile.
    »Ja, danke. Gern.«
    Ich holte vier Dosen Bier und ein Stück Camembert aus der Küche. Wir tranken jeder zwei Bier und aßen den Käse. »Wann haben Sie das letzte Mal eine Scheune abgebrannt?«, fragte ich.
    »Ja, also«, er hielt die leere Bierdose locker in den

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