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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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eine Länge von 7,2 Kilometern, und da ich mehrmals gemessen hatte, waren Fehler so gut wie ausgeschlossen.
    Am nächsten Morgen um sechs lief ich in Trainingsanzug und Joggingschuhen die Strecke zur Probe ab. Da ich sowieso jeden Morgen sechs Kilometer lief, war die Verlängerung um einen Kilometer keine große Sache. Die Landschaft war nicht übel. Es gab zwar unterwegs zwei Bahnübergänge, an denen ich jedoch nur selten aufgehalten wurde.
    Ich laufe von zu Hause los und als Erstes um den Sportplatz der nahegelegenen Universität herum, dann drei Kilometer auf einem menschenleeren ungepflasterten Weg den Fluss entlang. Hier steht die erste Scheune. Dann komme ich durch ein Wäldchen. Ein leicht ansteigender Hügel. Und da ist die zweite Scheune. Etwas weiter vorne gibt es Ställe für Rennpferde, und die Pferde würden beim Anblick des Feuers vielleicht unruhig werden. Aber das ist alles. Eine wirkliche Gefahr besteht nicht. Die beiden nächsten Scheunen ähneln sich ziemlich, sie sehen aus wie ein altes hässliches Zwillingspaar. Sie stehen keine zweihundert Meter voneinander entfernt und sind alt und schmutzig. Man sollte sie am besten gleich zusammen abbrennen, denke ich.
    Die letzte Scheune steht neben einer Bahnschranke. Ungefähr bei Kilometer sechs. Sie steht völlig verlassen direkt an den Bahnschienen und trägt ein Pepsi-Cola-Schild aus Blech. Das Gebäude – ich bin mir nicht sicher, ob man es überhaupt noch als solches bezeichnen kann – ist fast ganz in sich zusammengefallen. Wie er gesagt hatte, schien sie nur darauf zu warten, von irgendjemandem abgebrannt zu werden.
    Nachdem ich an der letzten Scheune kurz Halt gemacht und ein paar Mal tief ein- und ausgeatmet hatte, überquerte ich den Bahnübergang und lief nach Hause zurück. Ich hatte einunddreißig Minuten und dreißig Sekunden gebraucht. Ich duschte, frühstückte, legte mich aufs Sofa, hörte mir eine Platte an und machte mich dann an meine Arbeit.
    Einen Monat lang lief ich jeden Morgen dieselbe Strecke. Aber keine Scheune brannte ab.
    Manchmal dachte ich, dass er mich dazu bringen wollte, die Scheunen selbst abzubrennen. Er hatte mir die Vorstellung vom Scheunenabbrennen in den Kopf gesetzt, und jetzt blies sie sich auf, als ob man Luft in einen Fahrradreifen pumpte. Ab und zu überlegte ich wirklich, ob es nicht schneller sei, selbst mit einem Streichholz die Scheunen anzuzünden, als die ganze Zeit darauf zu warten, dass er es täte. Es waren schließlich bloß alte abgetakelte Scheunen.
    Aber das ging wohl zu weit. In Wirklichkeit brenne ich keine Scheunen ab. Mag sich die Vorstellung vom Scheunenabbrennen noch so sehr in meinem Kopf festsetzen, ich bin nicht der Typ, der tatsächlich Scheunen in Brand steckt. Nicht ich brenne Scheunen ab, sondern er. Vielleicht hatte er sich für eine andere Scheune entschieden. Oder er war zu beschäftigt und hatte keine Zeit, Scheunen abzubrennen. Und sie ließ auch nichts von sich hören.
    Es wurde Dezember, der Herbst war zu Ende, und die Morgenluft biss in die Haut. Die Scheunen standen da wie immer. Weißer Reif bedeckte ihre Dächer. Die überwinternden Vögel schickten das Geräusch ihrer flatternden Flügel durch das gefrorene Wäldchen. Unverändert nahm die Welt ihren Lauf.
    Das nächste Mal traf ich ihn Mitte Dezember letzten Jahres. Es war kurz vor Weihnachten. Überall ertönten Weihnachtslieder. Ich war in die Stadt gegangen, um allen möglichen Leuten alle möglichen Weihnachtsgeschenke zu kaufen. In der Gegend von Nogizaka stieß ich auf seinen Wagen. Es war zweifellos sein silberfarbener Sportwagen. Er hatte ein Shinagawa-Kennzeichen und eine kleine Schramme an der Seite des linken Scheinwerfers. Der Wagen parkte vor einem Café. Doch glänzte er nicht mehr so wie das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte. Irgendwie wirkte der silberne Lack stumpf. Aber vielleicht täuschten mich meine Sinne auch. Ich habe nämlich die Tendenz, meine Erinnerungen den Umständen anzupassen. Ohne zu zögern, trat ich ins Café.
    Im Café war es dunkel, und es roch intensiv nach Kaffee. Man hörte kaum die Stimmen der Leute, nur leise Barockmusik. Ich entdeckte ihn sofort. Er saß allein am Fenster und trank einen Café au lait. Obwohl es in dem Laden so heiß war, dass meine Brille beschlug, saß er in einem schwarzen Kashmirmantel da. Auch seinen Schal hatte er nicht ausgezogen.
    Einen Moment war ich unschlüssig, ging dann aber zu ihm und sprach ihn an. Allerdings sagte ich ihm nicht, dass ich

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