Der Elefanten-Tempel
lächelte in dieDunkelheit. »Ja, wir haben Kirchen. In Michelstadt, wo ich wohne, gibt es auch ein paar. Es ist nur eine kleine Stadt. Im Odenwald, von dem hast du bestimmt noch nicht gehört.«
»Nein, aber immerhin habe ich schon von Deutschland gehört.« Auch er lächelte, sie hörte es an seiner Stimme. »Es kommen ziemlich viele deutsche Touristen zum Elefanten-Festival in Surin, dem Round-up. Gehst du noch zur Schule?«
»Ja, noch etwas mehr als zwei Jahre.« Ricarda erzählte ihm von Nachmittagen im Freibad und in der Bibliothek, wo es nach Büchern roch und so herrlich ruhig war, dass man die Wörter flüstern hören konnte, wenn man ganz genau hinhörte.
»Du liest auch gerne, Nuan, oder? Die Bücher in deiner Tasche …«
»Jemand hat sie mir geschenkt. Jemand, der mir viel bedeutet. Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich sie gelesen habe. Das ›Dschungelbuch‹ hat mir sehr gut gefallen, ich mag Mogli und Baghira. ›Peter Pan‹ mochte ich weniger, Peter ist so ein seltsamer Mensch, ihm ist völlig egal, wie es anderen geht. Aber ich habe das Buch trotzdem behalten.«
Jemand, der mir viel bedeutet . Ricarda spürte einen Anflug von Eifersucht, bändigte ihn aber sofort. Als ob ich einen Anspruch auf ihn und all seine Gefühle hätte! »War das in Thailand?«
»Nein, in Amerika. Mein Vater war zwei Jahre dort, als Tiertrainer, weil einer der Mitarbeiter ausgefallenwar. Später sollte er noch mal hin, für eine Filmgesellschaft, aber er wollte Devi nicht allein lassen. Also flog ich an seiner Stelle nach Kalifornien. Es war … ziemlich verwirrend. Aber aufregend. Dort war ich zum ersten Mal im Kino. Zum ersten Mal in einem Büchergeschäft und im Schwimmbad.«
Ricarda konnte es vor ihrem inneren Auge sehen und genoss nachträglich sein Staunen. »Jetzt weiß ich endlich, wieso du so gut Englisch kannst.«
»Ja. Manchmal habe ich gewünscht, es wäre nicht so. Die Veranstalter des Round-ups in Surin wollten, dass ich beim Festival wichtige Farang -Gäste betreue, statt mit den Elefanten aufzutreten. Aber ich habe ihnen gesagt, das mache ich nicht. Und schließlich haben sie nachgegeben.«
Ricarda grinste. Sofia hatte recht, er war ein Sturkopf; mit Zwang bewirkte man bei ihm gar nichts. Hartnäckigkeit und Stolz. Gerade das mochte, bewunderte sie an ihm. Vielleicht weil es genau das war, was ihr fehlte.
Jetzt war er wieder dran. »Was ist das für ein Buch, in das du manchmal schreibst, dieses goldene? Ein Tagebuch?«
»Nein – ich schreibe gerade so eine Art Geschichte … ein Märchen. Interessiert es dich?«
»So etwas kannst du?« Er klang erstaunt. »Ich kenne niemanden, der eine Geschichte schreiben kann.«
Es ist nur eine kurze Geschichte. Und vielleicht nicht mal gut. Doch Ricarda sprach es nicht aus. Sie konntesich in letzter Sekunde bremsen. Woher kam eigentlich dieser widerliche Drang, schlecht über sich selbst zu reden? Ricarda hatte ihn satt. In Zukunft würde sie gegen ihn ankämpfen, so gut es ging. »In meiner Schublade daheim liegen noch einige Geschichten«, erzählte sie stattdessen. »Ich schreibe sie spät in der Nacht, nicht viele Menschen wissen davon.«
Nuan antwortete nicht, und auf einmal lag eine eigenartige Spannung in der Luft, Ricarda spürte sie beinahe körperlich. Sie brauchte nicht zu fragen, was los war, sie ahnte es. Vorsichtig stand sie auf, sah sich um, versuchte im schwachen Mondlicht etwas zu erkennen. Und erschrak. Laona hatte sich ihnen lautlos genähert. Die Elefantin war längst da, sie stand keine sieben Meter entfernt. Für die Menschen, die vor ihr auf der Treppe saßen, hatte sie keinen Blick übrig, sie schien versunken in ihren eigenen Traum.
»Sie wirkt so einsam«, flüsterte Nuan. »Sie hat nicht mal Devi begrüßt, obwohl sich die beiden bestimmt in Surin schon mal begegnet sind.«
»Ich glaube, du hast recht mit deiner Theorie«, gab Ricarda leise zurück. »Sie trauert.«
Diesmal blieb Laona nicht lange. Schon nach fünf Minuten drehte sie sich um und trat den Rückweg an. Ricarda sandte ihr einen lautlosen Gruß nach, wünschte ihr Glück. Diesmal würde sie nicht mitkommen. Sondern hierbleiben, bei Nuan.
Doch Glück hatte Laona diesmal keins. Ein Auto brauste heran, preschte mit gleißenden Scheinwerfernaus der Dunkelheit und direkt auf Laona zu, die gerade mitten auf der Straße stand. Es beleuchtete ihre Säulenbeine, den schweren Körper, der hoch über dem Auto aufragte. Einen Moment lang sah Ricarda die Elefantin als
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