Der Elefanten-Tempel
trainiert worden und später war sie noch mal in Lampang. Meinst du, sie war in dieser Zeit mal im Tempel, vielleicht zu einer Prozession oder so?«
»Hm. Ich weiß nicht. Vielleicht hatte sie einen Mahout , der als Mönch in den Tempel gegangen ist. Manchmal weiht jemand sein ganzes Leben Buddha.«
Die Theorie klang plausibel. War das schon die Lösung des Rätsels? »Vielleicht ist ihr das Gleichepassiert wie Devi«, spekulierte Ricarda. »Sie hat einen neuen Mahout bekommen, der sie schlecht behandelt hat. Und jetzt hofft sie, ihren alten Freund wiederzufinden. Aber warum kommt sie dann nachts, wenn alle Mönche schlafen und er sie garantiert nicht bemerken wird?«
»Wahrscheinlich aus ganz praktischen Gründen. Vielleicht weiß sie, dass sie tagsüber keine Chance hat, hierherzugelangen. Sie würde sofort eingefangen werden. Außerdem muss das mit dem Mönch nicht stimmen, es gibt noch eine andere Möglichkeit.« Auf einmal klang Nuan sehr ernst. »Weißt du, wie Elefanten mit dem Tod umgehen?«
»Mit dem Tod?« Ricarda fröstelte; plötzlich wurde ihr bewusst, wie kalt es in den Nächten hier im Hügelland wurde. Und sie trug nur ein T-Shirt.
»Wenn zum Beispiel ein Mitglied der Herde gestorben ist, dann werfen die Elefanten der Reihe nach ein wenig Erde über den Körper. Manchmal bedecken sie ihren toten Verwandten auch mit Zweigen, wie um ihn zu schützen.«
Ricarda konnte nicht antworten, auf einmal war ihre Kehle eng vor Trauer. Kaum mehr als ein halbes Jahr war es her, dass ihre Oma Hélène gestorben war, als Letzte ihrer Großeltern. Ein nieseliger Tag im November, ein kleines Grüppchen Menschen auf dem Friedhof, schwarz wie ein Schwarm Krähen. Ihre Eltern hatten ein Schäufelchen Erde auf den Sarg geworfen, dann Ricarda, dann Severin – selbst er, der sonstgerne cool wirkte, mit tränenfeuchtem Gesicht –, dann die anderen Gäste. Und später, als alles vorbei war, hatten sie das Grab mit Tannenzweigen bedeckt, darüber die Trauerkränze.
»Elefanten trauern fast wie Menschen?« Ricardas Stimme war nur ein Flüstern.
»Ja.« Auch Nuan sprach leise, wie um die Ruhe des Tempels nicht zu stören. »Wenn sie später den Knochen eines Verwandten auf der Erde finden, dann berühren sie ihn mit dem Rüssel. Andächtig. Zärtlich fast. Als wüssten sie genau, wem der Knochen einmal gehörte.«
»Und wenn kein Knochen da ist?«
»Dann legen sie an dem Ort, an dem ihr Verwandter gestorben ist, eine Art von Schweigeminute ein. Auch nach vielen Jahren noch. Jedes Mal wenn sie dort vorbeikommen.«
Eine Schweigeminute. Ja, das passte. Nur auf den ersten Blick hatte es wie Meditieren ausgesehen, was Laona tat.
»Glaubst du … dass das der Grund ist, warum Laona immer wieder hierherkommt? Sie hat hier jemanden verloren, den sie liebte?« Das klang seltsam. Aber nur ein bisschen. Wieso sollten Elefanten nicht lieben können? Oder Freundschaft empfinden? Sie hatten eine lange Kindheit, wuchsen in der Gruppe auf, wurden so alt wie Menschen. Freude, Trauer, Wut sah man ihnen deutlich an. Liebe … tja, die sah man nicht so deutlich. Meistens. Konnte man sie spüren?Spürte Nuan, dass sie ihn liebte? Sie wusste, dass er sie mochte, aber war da noch mehr?
»Vielleicht war es ein naher Verwandter, der gestorben ist. Das kann sein. Wir finden es heraus. Glaubst du, sie kommt in dieser Nacht wieder hierher?«
»Ich bin gespannt.«
»Ich auch.«
Aber noch war Laona nicht da, sie hatten Zeit, miteinander zu reden. Dass sie Nuan fast verloren hatte, machte diese Momente mit ihm so kostbar. Doch der Druck seiner Hand auf ihrem Arm war nur noch eine Erinnerung, und die Frage, warum er überhaupt hier war, füllte ihre Seele aus. Ich bin da. Weil ich hier sein wollte. Nein, das reichte nicht – nicht mehr! Ricarda staunte selbst über ihre Entschlossenheit, ihre Ansprüche. Das kannte sie von sich selbst nicht. Aber es fühlte sich richtig an.
Ricarda zwang sich zum Schweigen, zwang sich, ihn zu testen. Wollte er auch etwas über sie wissen, über ihr Leben? Oder interessierte ihn das gar nicht, war es Laona, die ihn faszinierte?
Kaum zu glauben, wie lang Sekunden sein konnten. Ricarda zählte sie nicht. Doch sie fühlte, wie sie verstrichen, eine nach der anderen. Bis zu dem befreienden Moment, als sie seine Stimme hörte. »Wo lebst du eigentlich in Deutschland? Gehst du dort in den Tempel … falls ihr welche habt?«
Ich. Ich bin ihm wichtig. Ich! Was für ein Geschenk eine Frage sein konnte. Ricarda
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