Der elektrische Kuss - Roman
durch das niedere Zwischendeck, zog Decken beiseite, rüttelte an Schultern, fragte barsch, stürzte weiter. Angst sprang ihr wie eine tollwütige Katze zwischen die Schulterblätter und krallte sich fest. Als er sie auf sich zukommen sah, verhakten sich sofort ihre Augen, ungeschützt, wie sie in dem Augenblick waren. Später wunderte sie sich, warum es den Schrecken und die Sorge dazu gebraucht hatte. Samuel ging mit großen Schritten auf sie zu. Zusammen eilten sie planlos zur Luke auf der Steuerbordseite, Samuels Beine streiften ihren Rock. Sie durchkämmten das gesamte Zwischendeck, riefen Sarahs Namen, fragten atemlos weiter. Bis Samuel plötzlich stutzte, innehielt, sich umdrehte, den Aufgang zur anderen Luke anpeilte, Charlotte immer an seinem Ellenbogen.
Es war ihm eingefallen, einmal mit seiner Tochter dort gewesen zu sein, obwohl es in dem Verschlag bestialisch stank. Doch die Schweine erinnerten Sarah an den heimischen Hof und es tat ihr gut, sie zu streicheln.
In dem Moment, in dem Samuel die kleine Tür aufriss, quoll ein Röcheln wie von einem gemarterten Tier aus ihm heraus. Was er sah, verschlug ihm die Sprache. Ein junges Frettchengesicht presste seine Hände um Sarahs Hals und hatte ihre Röcke schon so weit hochgeschoben, dass die blassroten Kräusellocken ihrer Scham wie ein Wundmal zwischen den weißen schmalen Schenkeln aufleuchteten. Der zweite Seemann, dickleibig von hinten, stand davor, nestelte noch an seiner Hose herum. Mit den Rüsseln grunzend im Stroh und an den Knöcheln der Menschen, die so zahlreich bei ihnen eingefallen waren, schauten die Schweine nur kurz blondbewimpert auf.
Samuel starrte in die blinden Augen seines Kindes, fingerte nach dem Messer an seiner Seite, mit dem er sonst Stöcke zuspitzte oder Brot und Käse in Scheiben schnitt. Mechanisch zog er es aus seiner Scheide, umklammerte den narbigen Griff aus Horn und streckte den Arm. Leicht konnte er es in die Kehle des einen stoßen und sein Kind befreien. Leicht. Aus Sarahs Mund rann nur eine schmale Speichelspur, und ihre Nasenlöcher waren geweitet. Sie wimmerte nicht einmal.
Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein.
Samuels Hand wurde taub, fühlte das Messer nicht mehr. Der Dicke drehte sich schwerfällig zu ihm um, verfilzte Haare hingen in ein aufgedunsenes Gesicht. Das Gesicht grinste.
»Willst du sie etwa auch? Musst aber warten, bis ich und mein Kumpel mit ihr fertig sind.«
Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andre hin. Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer zwingen will eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm.
Samuels Arm wurde weich. Das Messer in seiner Hand sank nach unten. Seine Tochter hatte ihre Sprache verloren, jetzt würde sie geschändet werden, ihre Ehre verlieren. Aber er würde seinen und ihren Glauben deswegen nicht verraten. Denn auch der Teufel verrichtete nur das Gebot des Allmächtigen. Ein Rüssel kroch ihm schnüffelnd am Hosenbein hoch. Er schloss die Augen.
Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet.
Inständig betete Samuel Hochstettler für seine Feinde.
»Seht ihr denn nicht, dass sie die, die …«, stammelnd suchte Charlotte das englische Wort für die Franzosenkrankheit.
»Zwei gestandene Männer hat sie bei uns zu Hause schon angesteckt, dass die jetzt Blut und Eiter pissen und dabei schreien wie ein angestochenes Schwein. Warum glaubt ihr, dass sie sich nicht gewehrt hat? Weil ihr inzwischen alles egal ist. Oder habt ihr keine Augen im Kopf?«
Das rotpickelige Frettchengesicht hörte ihr tatsächlich zu. Während dem Dicken die Hosen um die Knie schlotterten und sein weißer behaarter Hintern sich entblößte. Dass Hochstettler nichts tun würde, nichts tun konnte, spürte Charlotte instinktiv. Zum Glück hatte sie die Flasche Rum, die eigentlich für Uri gewesen wäre, noch bei sich. Sie entkorkte sie, ließ die Flüssigkeit langsam durch ihre Kehle laufen, bis sie die brennende Wirkung spürte, und setzte dann alles auf eine Karte.
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